An mein Ohr dringt lebhaftes Glockengeläut. Die Bimmelmusik von zufriedenen Kühen lässt mich den Alltag vergessen. Ich lasse meine Seele baumeln und tauche ein in die Welt von saftig grünen Weiden, Bergen, Seen und Kühen in allen Farben und Mustern: grau-beige mit Sahneschnauze; schwarz-weiß gefleckt und braun in allen Nuancen, von Milchkaffeebraun über rötliches Kastanienbraun bis hin zu tiefem Schokoladenbraun. Immer wieder füllt sich meine Nase mit einer kräftigen Brise Kuhstall-Geruch. Heute habe ich eine neue Rasse entdeckt: die „Panda-Kühe“. Vorn schwarz, in der Mitte weiß, hinten wieder schwarz. Ihr Fell ist zottelig und lockig und lädt zum Durchwuscheln ein.
Bereits vor einer Stunde haben wir die gemütlich vor sich hin kauenden Tiere bestaunt. Mit halb geschlossenen Augen liegen sie dösend im Gras und machen ein Nickerchen. Nur der Kiefer bewegt sich und mahlt im Kreis, kaut, kaut und mahlt. Kühe können, im Unterschied zu vielen anderen Tieren, auch aus schwer verdaulichen Pflanzenfasern noch Nährstoffe herausholen. Dafür brauchen sie allerdings vier Mägen und viel Zeit. Das beeindruckt mich. Ich erinnere mich an den Ausspruch: „Du kaust wie auf Stroh!“ Dabei denke ich an zähe Bohnen oder trockenes Fleisch, das einfach nicht runterrutschen will. Oder an Gedanken und Emotionen, die hochkommen und einen bitteren Geschmack in mir erzeugen. Leider hält mein Gedächtnis unschönen Ereignisse oft viel hartnäckiger fest als schöne Erinnerungen.
Manchmal sind es meine eigenen Schattenseiten, die mir immer wieder „aufstoßen“, an denen ich kaue. Selbstverurteilung und Stolz sind keine guten Ratgeber. Manchmal sind es schwer verdauliche Worte von anderen Menschen. Zugefügte Verletzungen. Missverstanden werden. Eine Mauer des Nachtragens und der Unversöhnlichkeit, die ich baue oder die mir begegnet. Jede Begegnung ziept und sticht.
Wie ist das mit der Vergebung? Wie ist das mit dem Spruch „Vergeben ja, aber nicht vergessen“? Möchte ich überhaupt vergessen? Oder pflege ich meine Verletzung und trage die ungerechte Behandlung dem anderen nach? Die Liebe Gottes rechnet das Böse nicht zu, heißt es in der Bibel (1. Korinther 13,5). Und als Petrus Jesus fragt, wie oft man seinem Bruder vergeben soll, vielleicht siebenmal, da antwortet Jesus: „Nicht, nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal“ (Matthäus 18,22)! Ich bin beeindruckt. Siebzigmal siebenmal kauen. Kauen und nochmals kauen. Wenn das nicht das störrischste Stroh verdaubar macht!
Sieben ist die Zahl der Vollkommenheit. Eine Zahl, die sowohl für einen Abschluss steht als auch für einen Neuanfang. Ein Abschluss des Nachtragens und der Selbstverurteilung. Und ein Neuanfang durch die überfließende Vergebung Jesu.
Ich möchte das Bild der gelassen kauenden Panda-Kühe festhalten und mit in den Alltag nehmen. Vier Mägen! Ich überlege: Ein Magen für das Umdenken-Wollen. Das Loslassen von Groll. Von Selbstgerechtigkeit. Von der Haltung des Verurteilens. Von Selbstmitleid. Ein Magen für das Abgeben bei Jesus. Alles Unverdauliche, Beschwerliche, Unnütze loslassen. Ein Magen für das Empfangen von Gnade, Barmherzigkeit und Vergebung. Und ein Magen, der erfüllt ist von Frieden. Von Vitaminen der Dankbarkeit und Freude. Und von kraftspendenden Kohlenhydraten der gelebten Versöhnung.
5 Antworten
Wie wunderbar geschrieben und beschrieben, liebe Frau Kerner. Meine Phantasie sprang sofort an und ich fühlte mich mit Ihnen auf der Wiese und Weide. Ein Wechselspiel zwischen Schmunzeln und ein paar Tränen, als es um das Schattenland ging und die ganzen Prozesse, die wir im Leben zu durchlaufen haben. Danke für diese inspirierenden Eindrücke!
Schöner Beitrag - besonders die vier Mägen am Schluss haben mich angesprochen. Danke!
Herzlichen Dank für das eindrucksvolle Bild des Wiederkäuens der Kühe im Vergleich mit dem, was nach einer tiefen Verletzung oder eigener Schuld passiert: Man vergibt das zwar, aber „es kommt wieder hoch“. Es muss noch einige Male durchgekaut und verdaut werden.
Gottes Segen für Sie!
vielen Dank
sehr anschaulich beschrieben.
Erst diese Tage dachte ich beim Anblick von Kühen auf der Weide wie friedlich diese wirken, aber sie brauchen diese Ruhe für die Arbeit des wiederkäuens
Ein genialer Vergleich. Ich werde diese Gedankenanstöße heute im Laufe des Tages "wiederkauen". Das Bild bleibt im Kopf hängen. Und beim Anblick von Kühen werde ich mich an ihre Andacht erinnern. Sehr schön. Vielen Dank und Gottes Segen für Sie.