Vor ein paar Jahren bin ich im Sommer mit meinem kleinen Sohn mit dem Zug gefahren. Eigentlich hätten wir nur etwas über vier Stunden unterwegs sein sollen. Letztlich wurden aber über sechseinhalb Stunden daraus. Ständig aktualisierte ich unsere Verbindung in der Bahn-App und war mal freudig-hoffnungsvoll, dann wieder düster-pessimistisch, je nach Prognose für unseren Anschlusszug.
Mein Junge hat das mit seinen vier Jahren ganz toll gemacht. Es kamen keine Klagen, kaum Nachfragen, wann wir endlich da sind. Er hörte diverse Hörspiele über seinen Kopfhörer, malte und freute sich mit mir, als das Bordbistro doch noch öffnete und wir sein Geschenk abholen konnten.
Was mir erst im Nachhinein klar wurde: Mein Sohn war die ganze Zeit über buchstäblich zeit-los. Er konnte noch keine Uhr lesen. Damals fragte er mich auch regelmäßig bei den Mahlzeiten, ob wir jetzt gerade zu Mittag essen oder schon zu Abend. Im Sommer ist die Tageszeit ja auch nicht so leicht am Sonnenstand abzulesen – zumindest nicht bei seiner normalen Zubettgehzeit.
Lange konnte ich mir ein Leben ohne Uhr oder ohne Kalender nicht vorstellen. Ich kenne den Rhythmus der Tageszeiten und Jahreszeiten. Ich kann Fahrpläne lesen und die Wetter-App nach Prognosen befragen. So wird mein Leben vermeintlich planbar. Aber was, wenn es nicht so kommt, wie ich es erwartet und geplant habe?
In der Bibel heißt es: „Alles hat seine Zeit.“ In der Corona-Zeit habe ich den Text aus Prediger 3,1–8 neu entdeckt und gestaunt, dass dort tatsächlich in neueren Übersetzungen von „umarmen“ und „sich fernhalten von Umarmungen“ die Rede ist!
Fest steht: Die Zeit bleibt für meinen Sohn nicht stehen. Inzwischen verlässt er in wenigen Monaten die Grundschule und kann die Uhr lesen. Die Zeit läuft ihm aber auch nicht davon. Ich kann meinen Sohn nicht vor der Zeit beschützen. Sie gehört zu unserer Welt, zu unserem Leben. Sehr wohl habe ich jedoch in der Hand, welche Haltung ich zu der Zeit habe, die mir zur Verfügung steht, und welche Haltung ich ihm vermittle.
Wofür nutze ich meine Zeit?
Was ist sie mir wert?
Und was ist gerade jetzt, in diesem Moment, an diesem Tag, wichtig?
Wie viel Zeit gönne ich mir selbst – um auszuruhen, zu reifen, mehr und mehr in Gottes Bild hinein verändert zu werden?
Wenn ich Jesu Worte „Werdet wie die Kinder“ (Matthäus 18,3) lese, muss ich oft an unsere Zugfahrt denken. Was ich habe, ist das Hier und Jetzt. Ich kann nicht alles planen, habe letztlich nicht die Kontrolle über das, was geschieht. Aber ich darf darauf vertrauen, dass der Eine, der uns hier auf der Erde ein Leben mit der Zeit geschenkt hat, mir dabei hilft, mein Heute zu gestalten. Und den morgigen Tag darf ich getrost in seine Hände legen.
3 Antworten
Vielen Dank für den erbaulichen und nachdenklichen Text. Ich wünsche mir oft die "Zeitlosigkeit" meiner Kindheit zurück....
Trotz grober Planung für den Tag, bitte ich Jesus jeden Morgen, mir zu zeigen, was für mich heute dran ist. Und ich merke, dass Jesus mir täglich Menschen in den Weg stellt, denen ich von Jesus erzählen kann, denen ich Ermutigung und Hoffnung geben kann. Und das wiederum erfüllt mich mit großem Frieden.
Mein Bruder liegt gerade in diesem Moment mit seinem 50 Jahren im Sterben. Wir erleben gerade sehr unten, dass auch sterben , genauso wie gebären, seine Zeit braucht. Die Seele braucht die nötige Zeit um ihre Reise anzutreten.