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Montag, 06.04.2020

Unter dem Kreuz

Ich lag unter dem Kreuz. Nicht nur sprichwörtlich, sondern im wahrsten Sinne des Wortes. Das Holzkreuz hing in einem Krankenhauszimmer und wenn ich aufschaute, fiel mein Blick darauf. Als junge Frau hatte ich die großen Holzkreuze in unserem örtlichen katholischen Krankenhaus bedrohlich, fast wie ein Mahnmal der Anklage empfunden. Heute, in meiner erbärmlichen Situation, wurde dieses Kreuz mein Rettungsanker. Ich war mit schrecklichen Schmerzen und einer Lähmung des linken Beins mit dem Notarztwagen eingeliefert worden. Nach stundenlangen Untersuchungen lag ich endlich im Krankenhausbett und war am Ende meiner Kräfte.
Das Holzkreuz war der einzige Wandschmuck. Es gab mir Hoffnung und einen tiefen Frieden, der mich während des ganzen Aufenthalts nicht verlassen sollte. So unerträglich die Schmerzen oft waren und die Lähmung meines Beins mich hilflos machte, der Blick auf das Kreuz signalisierte mir: Jesus ist da und ich bin unter seinem Schutz in Sicherheit! Getragen – so fühlte ich mich. Selbst die Familie und mein Mann spürten die besondere Gegenwart Gottes.
Meine Bettnachbarin, eine über 70-jährige Dame, kam gerade von der Intensivstation. Durch ihre schwere Lungenerkrankung hatte sie kaum Luft für eine längere Unterhaltung. Gemeinsam lagen wir acht Tage lang in diesem Zimmer und in dieser Zeit verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand immer mehr. Wir kommunizierten hauptsächlich mit Blicken und wenigen Worten.
Sie freute sich mit mir, als ich mithilfe eines Rollators wieder einige Schritte in unserem Zimmer gehen konnte, und ich betete oft im Stillen für sie, wenn nachts ihr Husten und die Luftnot kein Ende nahmen. Besuch bekam sie leider so gut wie nie, obwohl sie Kinder hatte, aber ihr Leben schien sehr schwierig gewesen zu sein. In ihren Augen las ich Resignation und Verzweiflung, aber gleichzeitig auch eine kaum wahrnehmbare Dankbarkeit, nicht allein zu sein.
Wieder und wieder legte ich sie im Gebet vor Gott – und dann wurde ich verlegt. Ihren Blick werde ich nie vergessen: Angst und Enttäuschung, ja, tiefe Traurigkeit, aber auch Bitterkeit und Einsamkeit konnte ich darin lesen. Am nächsten Tag starb sie, ohne Familie, ganz allein.
Erfahren habe ich von ihrem Tod erst einige Zeit später, da meine Familie mir das nicht zumuten wollte und jegliche Aufregung in meinem geschwächten Zustand vermied. Am erstaunlichsten war für sie und auch für mich meine Reaktion darauf, denn auch jetzt hüllte mich dieser tiefe Frieden ein.
Meine Gewissheit ist: Ich sollte da sein und die ältere Dame an ihren letzten Tagen im Gebet begleiten. Ich weiß nicht, ob ich sie eines Tages wiedersehen werde, aber eines ist sicher: Bei Gott ist nichts unmöglich! Seine Wege sind nicht unsere Wege. Er kann verschlossene Türen, verletzte Seelen und verbitterte Herzen auch im letzten Moment erreichen.

Dorothee Kowalke

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2 Antworten

  1. Bewegt mich sehr Ihre Geschichte. Die Kraft des Kreuzes und wie wichtig es ist für unsere Mitmenschen zu beten und ihnen damit zu dienen

  2. Ich denke ganz oft daran, wieviele Menschen wohl sehr einsam sterben und Niemanden haben, mit dem sie noch reden können. Das stelle ich mir sehr schwer vor.
    Umso besser und segensreich für diese Frau, mit der Sie in einem Zimmer zusammen waren, Frau Kowalke.

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