Vaterbild = Gottesbild?

Verängstigtes Kind

Unsere Eltern prägen uns stärker, als uns bewusst ist. Wie sie ihr Leben gestalten, wie sie miteinander umgehen und mit uns als Kind umgegangen sind – das alles beeinflusst unser Leben.

Wie wir unseren Vater erlebt haben, prägt unsere Beziehung zu Männern, aber auch das Bild, das wir unbewusst von Gott haben. Im bekannten Gebet „Vaterunser“ sprechen wir Gott als Vater an – so hat Jesus es gelehrt. Ich selbst bin dem verzerrten Bild, das ich von Gott hatte, erst spät auf die Schliche gekommen.

Als Kind wechselte ich mein Zuhause sehr oft, denn meine Eltern sind häufig umgezogen. Ich war achtmal „die Neue“ in der Schule, musste achtmal Abschied nehmen von Freundinnen, Kinderzimmern und vertrauten Wegen. Musste mich achtmal an ein neues Zuhause gewöhnen.

Warum wir so oft umgezogen sind, habe ich erst im Nachhinein verstanden: Mein Vater war Alkoholiker, und sobald es Konflikte am Arbeitsplatz gab, wechselte er den Arbeitgeber. So zogen wir quer durch Deutschland.

Unser Zuhause war ein Ort, der sich permanent änderte. Es war auch ein Ort der Angst und Unsicherheit. Mit steigendem Alkoholpegel neigte mein Vater dazu, sich über Kleinigkeiten zu ärgern, und oft gab es Streit.

Bin ich schuld?

Als ich kleiner war, wusste ich natürlich nicht, dass der Alkoholeinfluss für vieles verantwortlich war. Ich glaubte, wir Kinder seien schuld an der schlechten Stimmung, weil wir den Papa geärgert hatten. Unsere Mutter ermahnte uns regelmäßig: „Ärgert bloß den Vater nicht, seid brav, sonst gibt es wieder Streit.“ Als Kind verinnerlicht man so etwas. Kinder von Alkoholikern lernen, die Stimmung ihrer Eltern innerhalb von Sekunden zu erspüren und so zu reagieren, wie diese es erwarten oder die Situation es erfordert.

Also versuchten wir Kinder, alles zu vermeiden, was ihn reizen könnte. Das war natürlich unmöglich. Es passierte oft, dass ein geplanter Ausflug, ein Fernsehabend, ein Zirkusbesuch oder andere gemeinsame Unternehmungen, auf die ich mich gefreut hatte, nicht stattfanden. Wir konnten uns nicht darauf verlassen, dass Abmachungen und Versprechen eingehalten wurden.

War mein Vater nüchtern, konnte er liebevoll und großzügig sein. Er unterstützte meine Leidenschaft fürs Lesen und kaufte mir Bücher. Er brachte uns Schach bei und half bei den Matheaufgaben. Aber das waren seltene Höhepunkte.

Unsere Mutter konnte ihm nichts entgegensetzen. Sie tat alles, um ihn bei Laune zu halten. In Familien mit einem alkoholsüchtigen Elternteil dreht sich alles um die Sucht. Alle inneren Antennen sind auf den Alkoholiker und dessen Verhalten ausgerichtet. „Co-Abhängigkeit“ nennen Fachleute das.

Wenn der Körper spricht

Ich zog von zu Hause aus, sobald ich es konnte. Endlich alles hinter mir lassen und anders leben! Einige Jahre später kam ich zum Glauben an Jesus. Ich erkannte, dass Gott mich liebt, und wollte nach seinen Maßstäben leben. Ihm gefallen und das tun, was ihm gefällt.

Aber ich hatte unterschätzt, wie sehr mich das Vaterbild meiner Kindheit geprägt hat. Ich fürchte, ich war eine schwierige Partnerin. Ich hatte nicht gelernt, wie man mit unterschiedlichen Meinungen umgehen und Konflikte in Frieden lösen kann.

Mehrere Jahre später bekam ich Panikattacken. Ich hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen, und hatte Herzrasen. Diese Zustände kamen immer wieder. Alle Untersuchungen ergaben, dass ich keine körperliche Krankheit hatte. Es sei psychosomatisch, sagten die Ärzte.

Schmerz und Heilung

Der Arzt empfahl mir eine Psychotherapie. Also begann ich eine Gesprächstherapie, in der ich nach meinen Eltern, vor allem nach meinem Vater, gefragt wurde. Allerdings wollte ich weder über meine Familie reden noch an sie denken. „Was soll das mit mir zu tun haben, dass mein Vater getrunken hat?“, fragte ich die Therapeutin ärgerlich. Sie drückte mir ein Buch in die Hand mit dem Titel: „Familienkrankheit Alkoholismus.“ Es war unfassbar: In diesem Buch beschrieben Menschen exakt das, was ich erlebt hatte. Ich fühlte mich zum ersten Mal in meinem Leben verstanden.

In vielen Therapiestunden begriff ich, wie stark mich die Alkoholsucht meines Vaters geprägt hatte. Ich war ein vernachlässigtes Kind, das gelernt hatte, sich nicht auf die Erwachsenen zu verlassen. Es brauchte Zeit, das alles anzuschauen und zu verarbeiten. Das war schmerzhaft, und ich brauchte viele Taschentücher, aber ich hielt durch.

Gott ist anders

Das Vaterbild meiner Kindheit prägte unbewusst meine Haltung gegenüber Gott. Dass ich für Gott wertvoll bin, glaubte ich, aber es war nur Kopfwissen. Tief drinnen vertraute ich niemandem. Zu oft war ich enttäuscht worden. Ich habe getan, was von mir erwartet wurde, brachte in der Schule gute Leistungen trotz der vielen Umzüge, habe selbst Strategien entwickelt, um mit den Herausforderungen des Alltags klarzukommen.

Wenn ich betete, rechnete ich nicht wirklich damit, dass Gott mir helfen würde. Die Erfahrung schien mir recht zu geben: Immerhin hätte Gott die Macht gehabt, mich sofort von den Panikattacken zu heilen. Aber er hatte es nicht getan.

Es dauerte lange, bis ich das durchschaut hatte und die Erkenntnisse aus der Therapie auf meinen Glauben anwenden konnte. Die Erkenntnis, dass Gott ganz anders ist als mein irdischer Vater, brauchte Zeit, um Kopf und Herz zu durchdringen. Ein Bibelvers hat mir dabei geholfen: „Kennt ihr mich, dann kennt ihr auch meinen Vater“, sagt Jesus (Johannes 14,7). Mir wurde klar: Der Vater ist wie Jesus!

Neues Vertrauen lernen

Im Laufe der Zeit verschwanden die Panikattacken. Gott hat mich geheilt. Er möchte alle seine Kinder heilen. Er möchte, dass wir frei werden: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen“, erklärt Jesus (Johannes 8,32). Die Wahrheit über unseren Vater im Himmel finden wir in der Bibel.

Seitdem ist viel passiert. Ich habe gelernt zu vertrauen. Das war nur möglich, indem ich mich geöffnet habe und über das, was ich erlebt habe, geredet habe. Wenn man Dinge wie Sucht, Missbrauch und Gewalt nicht aufdeckt und sich Hilfe sucht, können diese immer weitergehen. Dieser Prozess zog sich über mehrere Jahre hin, aber es hat sich gelohnt.

Innere Freiheit und Vergebung

Einige Jahre später habe ich mich mit der Geschichte meines Vaters beschäftigt und verstanden, dass er ein Opfer der damaligen Umstände war. Er musste als Siebzehnjähriger im Zweiten Weltkrieg in Russland kämpfen. Mit dem, was er dort gesehen und erlebt hatte, kam er sein ganzes Leben lang nicht zurecht. Diejenigen, die während und nach dem Krieg Kinder waren, haben Grausames gesehen; sie waren traumatisiert. Die meisten haben keine Hilfe bekommen. Sie mussten funktionieren und arbeiten. Über Gefühle und schwere Erfahrungen wurde kaum gesprochen.

Die Strategie meines Vaters war, sich mit Alkohol zu betäuben. Als ich diesen Zusammenhang verstanden habe, war er leider schon tot. Es war befreiend, als mir klar wurde, dass ich ihm jetzt vergeben kann. Das hat mir Frieden gegeben. Inzwischen kann ich auch die guten Dinge, die er mir gegeben hat, sehen und dankbar dafür sein. Heute bin ich nur noch traurig, dass er sein Leben nicht anders bewältigen konnte.

Im Rückblick sehe ich, dass Gott für mich gesorgt hat, schon bevor ich ihn kannte. Er hat meinen Weg vorbereitet und gelenkt, gelegentlich auch korrigiert. Mit Sicherheit hat er mich vor vielem bewahrt. Inzwischen habe ich seine Güte und Fürsorge so oft erlebt, dass ich ihm vertrauen kann.

Gott ist ein liebevoller Vater.

Er hat gute Pläne für uns.

Er wird niemals etwas tun, das uns schadet.

Ellen Nieswiodek-Martin ist Redaktionsleiterin der Zeitschrift Lydia. Heute ist es ihr ein Anliegen, anderen ein gesundes Gottesbild zu vermitteln. Dieser Artikel erschien in einer längeren Fassung in Lydia 4/2022.

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3 Antworten

  1. Liebe Frau Ellen,
    Vielen Dank ,
    Sie schreiben genau mein Leben,was für eine Wahrheit, Gott hat gute Pläne für uns!
    Mein Grüß an sie ist von Psalm 20,
    Liebe Grüße,
    Eleonora

  2. Sie schreiben mir aus der Seele. So war es auch bei mir, auch ich musste (und muss es immer noch) lernen und verstehen, das Gott anders ist als unser irdischer Vater.

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