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Der zerrissene Schuldschein

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Immer wieder verfolgte es mich in meinen Träumen – das Mädchen aus der Nachbarschaft, das mich in meiner Kindheit gemobbt hatte. Es war zwar längst aus meinem Leben verschwunden, doch die Träume zeigten mir, dass ich mit dem Thema noch nicht abgeschlossen hatte. Erst als ich bereit war, dem Mädchen vollständig zu vergeben, verschwanden auch die Albträume …

Panisch blicke ich mich um. Die Verfolger sind mir dicht auf den Fersen. In ihrer Mitte die Anführerin: ein junges Mädchen mit hasserfülltem Gesicht und düsterer Miene. Sie hält eine Pistole in der Hand. „Umzingelt sie!“, kommandiert sie. Ich renne, so schnell ich kann, doch es gibt kein Entrinnen. Von allen Seiten kommen sie auf mich zu, grinsen und schauen zu ihrer Anführerin. „Los!“, schreit sie. „Packt sie!“ Sie kommen immer näher. Ich bin umgeben von Menschen, die mir Böses wollen. Mein Herz rast. Ich blicke der Anführerin in die Augen. Darin spiegelt sich der blanke Hass. Sie grinst mich verächtlich an und richtet den Lauf der Pistole auf mich. Dann drückt sie ab …

Albträume und Erinnerungen

Schweißgebadet wache ich auf. Erleichtert stelle ich fest, dass alles nur ein Traum war. Doch ich fühle mich elend, bin aufgebracht und kann vorerst keine Ruhe mehr finden. Ich versuche zu schlafen, doch meine Gedanken halten mich wach. Warum passiert das immer wieder? Ständig taucht Britta in meinen Träumen auf, obwohl ich sie seit 14 Jahren nicht mehr gesehen habe. Dabei kommt es jedes Mal zu dramatischen Szenen: Entweder hetzt sie andere massiv gegen mich auf, oder sie verfolgt und beschimpft mich, tut mir körperlich weh und erschießt mich schließlich. Mit den Albträumen kommen viele Erinnerungen an schlimme Erlebnisse aus meiner Kindheit hoch. Ich habe sie zwar längst aus meinem Leben verbannt, doch sie lassen sich nicht so einfach beiseiteschieben.

Mobbing im Kindergarten

Britta war ein Mädchen aus meiner Nachbarschaft, mit dem ich gemeinsam den Kindergarten und die Schule besuchte. Sie hatte es – aus welchen Gründen auch immer – auf mich abgesehen. Schon als Kindergartenkind musste ich mich mit ihren Bösartigkeiten auseinandersetzen. Ich kann mich noch gut an eine schöne Perlenkette erinnern, die ich im Alter von vier Jahren von meiner Patentante geschenkt bekam. Als ich sie zum ersten Mal im Kindergarten trug, machte sich Britta über mich her und zerriss die Kette.

Mobbing in der Schule

In der Grundschulzeit setzte sie ihr zerstörerisches Verhalten fort. Zudem war sie darauf aus, meine Klassenkameradinnen gegen mich aufzuhetzen. Als Anführerin schaffte sie es immer wieder, andere auf ihre Seite zu ziehen und dann gezielt gegen mich vorzugehen. Sie ging dazwischen, wenn jemand mit mir spielte, legte mir falsche Worte in den Mund, kehrte meine Fehler hervor, grenzte mich geschickt aus und log immer wieder, dass sich die Balken bogen. Auf die anderen Kinder machte Britta mit ihrer Art Eindruck. Es lohnte sich für sie, sich mit Britta gut zu stellen. Die Lehrer bekamen von den Vorgängen nichts mit, und auch meine Eltern unterstützten mich nicht. Ich musste mit allem allein fertig werden.

Halt im Glauben

Glücklicherweise lernte ich schon früh den christlichen Glauben kennen und besuchte die Kinderstunde, die von zwei engagierten Frauen der Freien evangelischen Gemeinde angeboten wurde. Im Glauben fand ich Halt und konnte Jesus meine Sorgen und Nöte bringen. Trotzdem litt ich sehr unter Brittas Demütigungen. Am sichersten fühlte ich mich im Urlaub, wenn wir wegfuhren. Doch es war jedes Mal schlimm für mich, wenn der Urlaub zu Ende ging.

Kein Opfer mehr

Britta suchte bewusst meine Nähe. Dass dies möglich war, dafür sorgten ihre Eltern. Wenn ich im Sommer auf einer christlichen Freizeit war, durfte sie auch mitfahren. Sie besuchte sogar gemeinsam mit mir die Kinderstunde. Als ich mit Leichtathletik begann, ging sie bald darauf in die gleiche Sportgruppe.
Mit dem Eintritt in die weiterführende Schule hatte ich mehr Möglichkeiten, einige Fäden selbst in die Hand zu nehmen. Als ich erfuhr, dass Britta Französisch gewählt hatte, entschied ich mich für Latein. In der Lateinklasse ging es mir dann gut. Britta ließ von mir ab und suchte sich ein neues Opfer, das sie in den nächsten Jahren nach erprobtem Muster erfolgreich traktierte.

Angeklagt

Auch wenn ich nun erwachsen und nicht mehr Brittas Opfer war, hatten mich die vergangenen Jahre sehr verunsichert, und ich musste mich mit den Folgen auseinandersetzen. In meinen Träumen tauchten immer wieder schlimme Erlebnisse aus der Kindergarten- und Grundschulzeit auf und ließen mich aufschrecken. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Inzwischen war mir klar geworden, dass ich jahrelang ein Mobbing-Opfer gewesen war und dringend Hilfe benötigt hätte. 14 Jahre nachdem ich die Schule verlassen hatte, stand für mich fest: Ich wollte endlich wieder ruhig schlafen und frei von den nächtlichen Verfolgungen sein.
Ich suchte eine christliche Seelsorgerin auf, der ich von meinen wiederkehrenden Albträumen erzählte. Wir sprachen über die Erlebnisse mit Britta. Sie bat mich, alle Anklagen gegen Britta untereinander aufzulisten. Das tat ich dann auch, und obwohl ich mich kurz fasste, füllte sich das Blatt schnell. Als ich fertig war, beteten wir intensiv. Wir baten Gott, mir Frieden zu schenken und die Verletzungen aus meinem Leben zu nehmen. Ich vergab Britta ihre Boshaftigkeiten und zerriss am Ende den „Schuldschein“.

Die große Wende

In der nächsten Nacht tauchte Britta wieder in meinem Traum auf – aber erstaunlicherweise nicht als die Böse, sondern als eine ganz normale neutrale Person. 13 Jahre sind seitdem vergangen. In diesen Jahren hatte ich nicht einen einzigen Albtraum von Britta mehr. Durch das gemeinsame Gebet mit der Seelsorgerin war ich geheilt worden. Ich war beeindruckt von der Gebetserhörung – schließlich hatte ich nicht damit gerechnet, dass die Albträume von heute auf morgen aufhören würden.
Nach und nach wurde mir deutlich: Gott hatte die schlechten Träume zugelassen, weil in meinem Leben noch einiges in Ordnung zu bringen war. Erst das Gespräch mit der Seelsorgerin hatte mir die Augen dafür geöffnet. Wie gut war es gewesen, ihr meine Sorgen und Nöte anzuvertrauen! Gott hatte die Frau benutzt, mit mir zusammen einen großen Schritt in die richtige Richtung zu gehen. Ich war gegenüber Britta verbittert gewesen und hatte sie für vieles Schwere in meiner Kindheit verantwortlich gemacht. Ich hatte sie jahrzehntelang angeklagt und mich geweigert, ihr zu vergeben. Damit hatte ich mich selbst auch schuldig gemacht.
Der zerrissene Schuldschein leitete die Wende ein: Als ich ihr vergab, fühlte ich mich befreit von einer schweren Last. Ich erfuhr, wie heilsam es ist, anderen zu vergeben. Damit konnte ich endlich ein düsteres Kapitel meiner Vergangenheit hinter mir lassen und mich Neuem zuwenden.

Gott zerreißt auch meine Schuldscheine

Doch Gott ließ es nicht dabei bewenden. Er forderte mich auf, noch mehr aufzuräumen. In meinem Leben hatte ich innerlich weitere kleine Schuldscheine geschrieben und nie zerrissen. Einige Schuldscheine waren eingerahmt, sodass ich sie ständig sehen konnte, andere hatte ich beiseitegelegt und fast vergessen. Gott machte mir deutlich, dass ich grundlegend sauber machen sollte, auch wenn es unbequem war. Aber ich wusste: Er meint es gut mit mir. Er möchte, dass nichts zwischen ihm und mir steht. Es war also wichtig, auch an die unbequemen Aufgaben heranzugehen. Schließlich gibt es auch für Gott schönere Aufgaben, als mir immer wieder zu vergeben. Doch er macht es trotzdem: Er zerreißt meine ganzen Schuldscheine – restlos, weil er ein gütiger und treuer Gott ist.

Dieser Artikel von Simone Bartels erschien in LYDIA 2/2014.

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