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Wann weiß man,

wer man ist?

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Unsere Identität ist ein wichtiger Bestandteil unseres Seins. Besonders Kinder und Jugendliche erleben die Identitätsfindung als eine spannende und manchmal auch herausfordernde Reise. Wie können wir ihnen gute Begleiter auf diesem Weg sein?

Meine Kinder liebten das Kinderbuch von dem kleinen rot-weiß-karierten Wesen mit den Glupschaugen und den Dackelbeinen, das sich auf die Suche nach seiner Identität macht. So sehr es in seiner kleinen Welt, einer bunten Blumenwiese, nach seinesgleichen Ausschau hält, es findet kein zweites Wesen, das genauso ist wie es selbst. Schließlich kommt es zu der Erkenntnis: „Jetzt weiß ich, wer ich bin: Ich bin ich!“

Wie das kleine „Ich bin ich“ ist jeder von Kindheit an auf der Suche nach seiner Identität. In den ersten Lebenswochen besteht eine Symbiose zwischen Mutter und Kind. Doch bereits nach kurzer Zeit bemerkt ein Kind, dass seine Gefühlsäußerungen bei den Bezugspersonen eine gewisse Reaktion auslösen. Wenn es weint, bekommt es zu essen, die Windel wird gewechselt oder es wird herumgetragen. Wenn es lächelt, begegnen ihm die Bezugspersonen ebenso mit einem freundlichen Blick. Die Reaktionen seines Gegenübers sind wie ein Spiegel, in dem das Kind sein eigenes Verhalten reflektiert sieht. So wird es nach und nach dazu befähigt, sich selbst zu empfinden und den eigenen Körper als etwas Eigenständiges zu erleben. Die Identitätssuche hat ihren Anfang genommen.

Mit etwa zwei Jahren erkennen Kinder sich erstmalig im Spiegel. Nach und nach merkt das Kind: „Das kleine stupsnasige Gegenüber, das bin ich selbst!“ In dieser Phase entdeckt das Kind, dass es vieles selbst machen kann und auch will. Die sogenannte Trotzphase beginnt.

Weibliche und männliche Vorbilder

Vorschul- und Grundschulkinder sind meistens stolz auf ihre Herkunft. In diesem Alter identifizieren sich die Jungen und Mädchen ganz mit ihrer Ursprungsfamilie. Am liebsten möchten sie später auch Lehrerin oder Verkäuferin wie die Mama werden oder den Beruf des Vaters ergreifen. Erst mit dem Heranwachsen löst sich dieses symbiotische Verhalten langsam auf. Durch die Erweiterung des Personenkreises um sie herum, erkennen die Kinder: Es gibt auch andere Vorbilder, andere Lebensmodelle und viele verschiedene Berufe, die man ergreifen kann.

Gerade dieses Identifizieren mit Papa und Mama stellt jedoch eine wichtige Phase der Ichfindung als männliche oder weibliche Person dar. Damit ist kein klischeehaftes Rollenbild gemeint. Jungen und Mädchen erleben an ihren Eltern gleichermaßen Stärke und Schwäche, Begabung und Persönlichkeit. Dennoch ist es auch für die Identitätsfindung wichtig, sich an gleichgeschlechtlichen Vorbildern zu orientieren. Das sind in der Regel zunächst der Vater und die Mutter, aber auch ältere Geschwister, Großeltern und andere Verwandte. Später kommen Pädagogen und Pädagoginnen sowie außerfamiliäre Bezugspersonen hinzu. Letztere sind besonders wichtig für Kinder, die nur mit einem Elternteil aufwachsen und denen dementsprechend das männliche oder weibliche Vorbild fehlt.

Unsere kleine Enkeltochter hat großes Vergnügen daran, in Opas Hausschuhen oder in meinen Laufschuhen durch die Wohnung zu schreiten. „Schau, ich bin die Oma!“, ruft sie dann lachend. Kinder lieben es, sich zu verkleiden. Als Polizist, als Dinosaurier, als Ärztin, als Superheld oder als Clown. Für einen Nachmittag vorzugeben, jemand anderer zu sein, macht richtig viel Spaß. Rollenspiele eignen sich dafür, dass Kinder sich ausprobieren können und einmal nicht nur sprichwörtlich „in den Schuhen eines anderen“ gehen.

Der Blick in den Spiegel

Je jünger Kinder sind, umso leichter können sie in ihrer Identitätsfindung gelenkt und begleitet werden. Schwieriger ist es, wenn sie dem Grundschulalter entwachsen sind. Jetzt sind andere Fragen wichtig: ihr Name, ihr Alter, ihr Geschlecht, ihre Schulnoten, ihre Erfolge im Sport sowie die Anzahl ihrer Follower auf den Social-Media-Kanälen und die Zahl ihrer Freunde und Freundinnen im echten Leben. Ganz schön viele Aspekte, die einen jungen Menschen auszumachen scheinen. Die Vielfalt an Lebensmodellen, die auf den Social-Media-Plattformen dargestellt werden, suggerieren dem Kind: „Ich muss so sein wie die Person mit den meisten Followern.“ Oder: „Mein Leben ist langweilig.“ Wertvoll ist, wer sich am besten präsentieren kann. Ob dieses Bild der Realität entspricht oder nicht, erscheint nebensächlich.

In meiner Praxis für Kinder mit Lernverzögerungen verwende ich einen Spiegel, um mit meinen jungen Klientinnen und Klienten ihr Körperschema zu trainieren – das bedeutet die Beziehung ihres eigenen Körpers im und zum Raum. Neulich blieb der zwölfjährige Lukas schweigend vor dem Spiegel stehen und blickte unverwandt hinein. Nach einer Weile meinte er: „Es ist irgendwie komisch. Ich schaue in den Spiegel und denke mir: Da bin ich, der Lukas. Aber ich frage mich: Wer bin ich eigentlich?“ Nachdem er sich lange Zeit selbst in die Augen gesehen hatte, wandte er sich mit einem fragenden Blick zu mir um: „Ist man dann erwachsen, wenn man weiß, wer man ist?“ Wenn das so einfach wäre, dachte ich mir, dann gäbe es weniger Menschen, die ihr Leben lang auf der Suche sind.

Gefühle und Erwartungen von außen

In meinem Beruf als Förderpädagogin erlebe ich immer wieder, wie Mädchen sich in einer bestimmten Lebensphase eher männlich kleiden und stylen. Aber auch so mancher junge Mann hat über mehrere Monate plötzlich lange, schön geschnittene oder lackierte Fingernägel und lange gestylte Haare. Sind diese Jugendlichen im anderen Geschlecht beheimatet oder „divers“? Diese Fragen werden uns vom Mainstream nahezu aufgedrängt.

Eine Gefahr unserer Zeit ist, dass die Identität eines Menschen auf seine Sexualität reduziert wird. Dabei sind wir doch viel mehr als das!

Erfahrungsgemäß gehört dieses Sich-Ausprobieren zur Identitätsfindung für viele junge Menschen dazu. Viele Jungen weisen auch stereotypisch betrachtet „weibliche“ Merkmale wie Einfühlsamkeit, Altruismus, Eitelkeit, Verletzlichkeit und Schutzbedürfnis und viele Mädchen auch „männliche“ Merkmale wie Stärke, Durchsetzungsvermögen und Selbstbewusstsein auf. Gerade diese Geschlechterstereotypen sind häufig der Grund, warum junge Menschen in eine Identitätskrise geraten, die ihre sexuelle Zugehörigkeit betrifft. Sie denken: Ich kann doch kein Mädchen sein, wenn ich mich lieber sportlich-leger kleide und meine Haare kurz trage. Oder: Als Junge darf ich lange, gepflegte Fingernägel nicht cool finden.

„Sei doch ein Mann!“ Wie oft hören Jungen diesen Satz von ihrem Vater, wenn sie in bestimmten Situationen Angst haben. Oder: „Echte Kerle weinen nicht!“ Solche wohlgemeinten Sprüche können Jungen in eine sexuelle Identitätskrise stürzen: „Bin ich nicht Manns genug?“ Genauso kann es Mädchen ergehen, die immer wieder hören: „Sie ist so ungestüm. An ihr ist ein Junge verloren gegangen!“ Eltern sollten sehr feinfühlig sein, wenn es darum geht, ihre Kinder in ein Schema zu pressen, was ihre Männlichkeit oder Weiblichkeit betrifft.

In diesem Zusammenhang ist es interessant, zusammen mit den Kindern in der Bibel zu schauen, wie Jesus mit Menschen umgegangen ist: nämlich gleichermaßen wertschätzend mit Männern und Frauen. In seinem Anliegen für jeden einzelnen Menschen hat er keinen Unterschied zwischen Mann und Frau gemacht. Diese Erkenntnis kann für junge Menschen in ihrer Identitätsfindung hilfreich sein.

Eine weitere Gefahr unserer Zeit ist, dass die Identität eines Menschen auf seine Sexualität reduziert wird. Dabei sind wir Menschen doch viel mehr als das! Werden Jungen und Mädchen auch noch darauf beschränkt, „als wer oder was“ sie sich gerade fühlen, haben sie wenig Sicherheit, wer sie eigentlich sind. Wer sich auf seine Gefühle verlässt, ist nämlich jeden Tag jemand anderer. Einmal selbstbewusst, einmal schwach, an einem Tag voller Vertrauen, am anderen mutlos … Wichtig ist es, jungen Menschen zu vermitteln: Es kommt nicht darauf an, wie du dich heute fühlst oder wie andere dich sehen, sondern darauf, wie Gott dich sieht.

Jedes Kind ist einzigartig

Echte Annahme von ihren Eltern und einen sicheren Rahmen für ihre Identitätsfindung erfahren junge Menschen, wenn ihnen vermittelt wird: „Wir haben dich lieb – so, wie du bist! Als Mädchen, als Junge. Mit deinen Stärken und mit deinen Schwächen. Denn Gott hat dich einzigartig geschaffen: Kein Mensch auf der Welt ist genau wie du. Sogar deinen Fingerabdruck hat niemand anderer auf der ganzen Welt, nicht einmal, wenn du ein Zwilling wärst!“ Unser Fingerabdruck ist ein ID-Code – genial von Gott ausgedacht. Wunderbar und einzigartig. Und eine Aufforderung an jeden einzelnen Menschen: Sei du selbst, denn dich gibt es nur einmal!

Unser Fingerabdruck ist ein ID-Code – genial von Gott ausgedacht.

Wie sehr hat es mich berührt, als ein Mädchen mit einer schweren Lese- und Rechtschreibschwäche zu mir gesagt hat: „Ich bin Legasthenikerin, und das ist etwas ganz Besonderes!“ In welchem liebevollen, lernbereiten Umfeld wächst Lisa heran! Geliebt und gewollt! Und als etwas ganz Besonderes. Ohne große Leistung. Einfach, weil Lisa die Tochter ihrer Eltern ist.

Kinder wie Lisa tun sich leichter zu glauben, dass es einen himmlischen Vater gibt, der sie bedingungslos liebt. Nicht wegen ihrer vielen Follower auf Instagram. Nicht wegen ihrer Erfolge. Sondern weil sie von ihm genauso geschaffen sind, wie sie sind. Einzigartig und unverwechselbar. Diese Botschaft ist das größte Geschenk, das Eltern ihren Kindern vermitteln können auf der Suche nach ihrer Identität.

Dieser Artikel erschien in Lydia 3/2023. Im Dossier dieser Ausgabe finden Sie weitere Artikel zum Thema Identität.

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