Ich lebe jetzt seit fünfzehn Jahren in dieser Stadt und in dieser Wohnung. Mir scheint, ich bin angekommen. Zuvor war ich durch Studium und Beruf bedingt häufig umgezogen. Von Anfang zwanzig bis Mitte dreißig hatte ich in acht unterschiedlichen Städten gelebt. Es war eine vielseitige, intensive, begegnungsreiche Zeit. Heute wundere ich mich darüber, wie locker ich das weggesteckt habe. Jetzt gehören beide Erfahrungen zu mir: das Aufbrechen und das Ankommen.
Anders angekommen bin ich inzwischen auch bei mir selbst als Singlefrau. Klar, mit meinem Singlesein durchlebe ich schöne und schwere Zeiten. Tage, an denen ich die Freiheit und Ruhe genieße, die Spontanität, tiefe Begegnungen und herzliche Freundschaft. Ich entdecke den Wert von intensiven Prozessen, die ich allein durchleben kann. Aber es gibt auch die Tage mit Einsamkeit, Sehnsucht und Schmerz, mit dem unerfüllten Bedürfnis nach Zweisamkeit.
Mir tut es nicht gut, diese Schmerzpunkte und Leerstellen zu ignorieren, in einem stummen Frust zu versinken oder sie mit Aktionismus zuzudecken. Denn ich habe gelernt: Mein Weg zum Versöhnt-Sein mit meiner Lebenssituation führt nicht am Schmerz vorbei, sondern mitten durch den Schmerz.
Es sind besondere Momente, wenn eine Freundin und ich einander unsere Verletzlichkeit zeigen können. Da fängt die verheiratete Frau an, von ihren unerfüllten Wünschen und den Leerstellen in ihrem Leben zu sprechen. Es sind andere als meine, aber sie sind da – für mich teilweise überraschend. Wenn wir bereit werden, sie einander zu zeigen, entsteht eine wunderschöne Tiefe und Lebendigkeit.
Gerne mit mir selbst zusammen sein
Meine Gedanken wandern zu Jesus, der den Lebensstand von Verheirateten wie von Singles gleichermaßen wertschätzte. Er selbst war alleinstehend und gleichzeitig oft von Menschen umgeben. Das beeindruckt mich. Jesus hat vorgelebt, was es heißt, hingebungsvoll zu leben, ganz hineinverwoben in die Liebe zum Vater und die Liebe zu den Menschen. Er suchte die Rückzugsräume und das Gebet, war aber auch ganz präsent in den Begegnungen mit Menschen.
Für mich bedeutet so eine Haltung, mit Freude das zu genießen und zu gestalten, was ich als Singlefrau an Freiräumen und Möglichkeiten habe. Die gemeinsamen Stunden mit der befreundeten Familie, den Spaziergang mit einer Bekannten, aber auch die Zeit mit Gott und mit mir allein. Ich musste selbst lachen, als mir einmal der Gedanke durch den Kopf ging: Ich bin gerne mit mir zusammen. Der Satz stimmt – nicht immer, aber oft. Gerne mit mir zusammen zu sein, heißt, gerne in meinem Körper zu wohnen. Mir Gutes zu tun, zum Beispiel mit dem, was ich koche und esse – denn die Liebe zu mir selbst geht auch durch den Magen. Immer wieder helfen mir auch Körper- und Achtsamkeitsübungen, bei mir anzukommen.
Mein Glaube ist alltäglicher geworden, mein Gebetsleben ehrlicher. Wut, Klage und Traurigkeit bekommen ebenso Raum wie Freude, Dankbarkeit und Begeisterung.
Anders angekommen bin ich in den letzten Jahren nicht nur bei mir selbst, sondern auch bei Jesus. Mein Glaube ist alltäglicher geworden, mein Gebetsleben ehrlicher. Wut, Klage und Traurigkeit bekommen ebenso Raum wie Freude, Dankbarkeit und Begeisterung. Oft bin ich zwischendurch – beim Arbeiten, Kochen, wenn ich nachts wachliege oder unentschlossen auf dem Sofa sitze – im Gespräch mit Jesus und habe auch das Meditieren von Bibelworten für mich entdeckt. Oder ich bin einfach anwesend, in dem Wissen, er ist es auch: Ich muss jetzt nichts leisten, nicht mal im Gebet. Das tut so gut.
Gute Gewohnheiten
Für mich ist es hilfreich, um meine regelmäßigen Aufgaben in der Gemeinde, aber auch um meine regelmäßigen Verabredungen zu wissen: zum Beispiel das wöchentliche Mittagessen mit einer Freundin, abwechselnd zubereitet. Immer wieder kommt auch ihr Mann dazu, und nach dem Essen beten wir noch zusammen. Ich mag es sehr, wenn sich die Welten von Familien, Singles und Ehepaaren durchmischen.
Schon seit einigen Jahren besucht mich ein- oder zweimal im Jahr die Mama einer fünfköpfigen Familie für zwei Tage, und wir genießen die Ruhe und die Gespräche ohne Ablenkung. Und begleiten einander in den kleinen und großen Themen, die die Lebensmitte ganz unabhängig von der Lebenssituation oft ausmachen: „Ach, du hast jetzt auch deine erste Lesebrille? In welchem Alter hören wir eigentlich auf, uns die Haare zu färben? Wie geht es dir mit der Begleitung der älter und schwächer werdenden Eltern? Hast du auch den Eindruck, inzwischen mehr Zeit für dich allein zu brauchen? Welche neuen Träume hast du für dein Leben, welche hast du losgelassen?“
Manchmal kostet es mich Überwindung, meine Bedürfnisse zu benennen und mich nicht allein durchzukämpfen in Situationen, die mit konkreter Hilfe viel leichter zu meistern sind: Mal ist es die handwerkliche Unterstützung durch einen Freund, mal die Begleitung zu einem wichtigen Arztbesuch. Ich freue mich auch, wenn ich um Hilfe gebeten werde: mit Babysitten und Kinderhüten, beim Tapezieren und Trampolin-Aufstellen.
Ehrlich sein und Entscheidungen treffen
Langweilig war sie nie, die Zeit meines Ankommens in der Lebensmitte. Sie beinhaltete auch große Aufbrüche – nicht äußerlich, sondern tief innen. Zum Beispiel, als ich merkte, wie sehr ich im Beruf über meine Kraftgrenzen hinaus gelebt hatte. Ehrlich zu werden, Schmerz und alte Muster zu benennen, zu klaren Entscheidungen zu finden, war ein mühsamer, aber fruchtbarer Weg. Vielleicht hatte ich das äußere Ankommen gebraucht, um mich dem stellen zu können, was mich lange vom Ankommen in meinen gesunden Grenzen abhielt: dem Anspruch, zu funktionieren, pflichtbewusst und leistungsbereit zu sein. So war der Weg der letzten Jahre auch einer vom Funktionieren-Müssen zum Sein-Dürfen, der mir wieder Lebensfreude und Leichtigkeit bescherte, der mir ermöglichte, neu zu träumen und beruflich Neues zu wagen.
Ich bin angekommen in der Lebensmitte. Anders angekommen bei mir selbst, bei anderen Menschen und bei Gott. Langweilig war es nie. Und wer weiß, wann der nächste Aufbruch naht … innerlich oder äußerlich.
Dieser Artikel stammt aus Lydia 3/2022.
Eine Antwort
Wow. Danke. So ehrlich und offen.
Herzliche Umarmung.
Nancy