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Alte Eltern: Besuche und Briefe

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Ich war jahrelang der Meinung, dass Anrufe genügen, aber dann habe ich die Sehnsucht meiner Mutter aus ihren Worten herausgehört. Und für mich steht fest: Ich werde mindestens einmal im Jahr die 1400 Kilometer auf mich nehmen, um meine Mutter zu besuchen.

Ein Besuch bei meiner Mutter in Bremen stand an. In den letzten Jahren kam es selten vor, dass ich die knapp 700 Kilometer von Süddeutschland auf mich genommen habe, um meine Mama zu besuchen. Wenn überhaupt, habe ich solche Besuche mit irgendetwas verbunden – einem Vortrag bei einem Frauenfrühstück, der Hochzeit einer Freundin, einem runden Geburtstag oder zuletzt der Beerdigung meiner Schwiegermutter.

Ich war 23, als mein Mann und ich nach zwei Jahren Ehe die Hansestadt verließen, um in die Nähe von Frankfurt an den Studienort meines Mannes zu ziehen. Drei Jahre später verschlug es uns für zwölf Jahre nach Wolfsburg. Vor elf Jahren zogen wir dann nach Süddeutschland. Mit zunehmender Kinderzahl wurden die Besuche bei unseren Müttern seltener. Die Anstrengung, mit so vielen Personen in den Norden zu reisen, war uns oft zu groß.

Dafür stand das Telefon nicht still. Meine Schwiegermutter rief fast täglich an. Manchmal nervte uns das. Mit meiner Mutter telefonierte ich alle ein bis zwei Wochen. So waren wir uns trotz der Entfernung nahe. Dachte ich jedenfalls.

Die Kinder sind der höchste Besuch

Als ich jetzt meinen Besuch ankündigte und mir meine Mutter am Telefon erzählte, wie aufgeregt sie sei, zog ich fragend die Augenbraue hoch.
„Wieso bist du aufgeregt?“, wollte ich wissen.
„Wenn ich weiß, dass eines von euch Kindern kommt, dann stehe ich schon zwei Stunden vorher am Fenster. Ich schaue durch die Gardine nach jedem vorbeifahrenden Auto, in der Hoffnung, dass ihr es schon seid. Ich mache mir Tage vorher Gedanken darüber, was ich kochen soll, ob euch das schmeckt, ob das Essen reicht.“ „Mama, das sind doch nur wir, deine Kinder. Es kommt kein hoher Besuch!“, versuchte ich sie zu entspannen. Ihre Antwort traf mich mitten ins Herz: „Mein liebes Kind, ihr seid für mich der höchste Besuch, den ich jemals bekommen könnte.“

Sehnsüchtig erwartet

Nachdem ich meinem Mann von unserem Gespräch erzählt hatte, lief diese Träne seine Wange hinunter. Er dachte an seinen Opa, bei dem er aufgewachsen war. Dieser hatte vier Kinder gehabt: die Mutter meines Mannes, eine Tochter, die bei ihm lebte, und zwei Söhne. Mein Mann wohnte zusammen mit seinem Opa und seiner Tante in einem Dorf in Kroatien, der Rest der Familie im 50 Kilometer entfernten Novi Sad in Serbien. Während diese Strecke heute keine große Entfernung mehr darstellt, waren solche Fahrten in den Sechzigerjahren Ausflüge, die man nur hin und wieder am Wochenende auf sich nahm. Wie sehr freute sich der Opa immer, wenn eines seiner Kinder zu Besuch kam. Und wie groß war die Enttäuschung, wenn wieder ein Wochenende ohne Besuch verging.
Mein Mann erinnerte sich daran, wie er mit seinem Opa freitags nach getaner Feldarbeit auf dem Kutschbock die Straße nach Hause fuhr. Der Opa hielt schon lange vor dem Haus Ausschau nach einem der Autos seiner Kinder. Und er redete sich selbst die ganze Fahrt über ein, dass diesmal bestimmt einer seiner Söhne oder die Tochter da sein würde. Wie groß muss jedes Mal die Enttäuschung gewesen sein, wenn niemand kam! Das ließ sich der Opa zwar nicht anmerken, aber in der Erinnerung meines Mannes – der mittlerweile selbst Vater ist – stand ihm diese Situation klar vor Augen.

Sehnsucht nach den Kindern

Die Beziehung zu den eigenen Eltern ist nicht bei jedem von uns in Ordnung. Vielleicht haben wir uns aufgrund von Verletzungen von unseren Eltern getrennt. Oder wir haben uns durch unsere unterschiedliche Lebensweise voneinander entfernt. Oder wir sind genervt von den Ansichten unserer Eltern, davon, dass sie sich in unser Leben einmischen. Vielleicht bringen sie uns auch in irgendeiner Art und Weise in Rage. Aber egal, was war und was ist: Es sind unsere Eltern. Ich war jahrelang der Meinung, dass Anrufe genügen, aber wie sehr habe ich die Sehnsucht meiner Mutter aus ihren Worten neulich herausgehört. Und für mich steht fest: Ich werde künftig mindestens einmal im Jahr die 1400 Kilometer auf mich nehmen, um meine Mutter zu besuchen.

Bei meiner Schwiegermutter ist es leider zu spät. Bei ihrem letzten Umzug in eine Seniorenwohnanlage im vergangenen Sommer hat mein Mann in ihrer Wohnung über zwanzig Flaschen besten Rotwein gefunden. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit kaufte sie eine Flasche – in der Hoffnung, dass ihr Sohn zu Besuch kommt. Er kam zu selten.
Bei ihrem Umzug nahmen wir uns vor, ab jetzt öfter nach Bremen zu fahren. Mein Mann fuhr gleich zwei Wochen später nochmals in den Norden, um meiner Schwiegermutter die Wohnung einzurichten. Er kaufte Gardinen und Lampen, brachte alles an, hängte Bilder auf, packte Kisten aus, räumte auf und verabschiedete sich mit den Worten: „Jetzt hast du es schön, genieß deine neue Umgebung. Wir kommen dich bald wieder besuchen.“ „Ach weißt du, es ist schön hier, aber viel mehr freue ich mich auf meine Wohnung im Himmel. Da werde ich Jesus begegnen und mit Julian (unserem verstorbenen Sohn) zusammen auf euch warten.“ Das waren ihre letzten Worte, bevor mein Mann seine Rückreise nach Hause antrat. Zwei Tage später ist sie gestorben.

Einen Brief schreiben

Als wir von ihrem Tod erfuhren, dachten wir nicht an die viele Zeit, das viele Geld und die viele Arbeit, die der Umzug mit sich gebracht hatte. Es breitete sich einzig und allein die Dankbarkeit in unseren Herzen aus, dass mein Mann sich die letzten Tage im Leben seiner Mutter um sie gekümmert und Zeit mit ihr verbracht hatte. Das war reine Gnade – für sie und für ihn.
Die Beziehung zu meinem Vater ist seit meiner Kindheit etwas angeknackst. Es ist immer wieder schwierig, sie in einer herzlichen Weise aufrechtzuerhalten. Oft gebe ich mir Mühe, manchmal nicht. Dann suhle ich mich in meinen Verletzungen und möchte keinen Kontakt, um nicht wieder angegriffen zu werden. Doch dann erinnere ich mich an das Gebot „Ehre deinen Vater und deine Mutter“ (2. Mose 20,12). Also überwinde ich mich und schreibe ihm einen Brief. Ich bete, dass er meine Zeilen in einem Moment der emotionalen Offenheit liest. Alles andere darf ich in Gottes Hände legen.
Wer weiß, vielleicht steht auch mein Vater am Fenster und schaut, ob seine Kinder kommen? Vielleicht zuckt er bei jedem Klingeln des Telefons zusammen, um dann doch enttäuscht zu sein, dass seine Kinder nicht anrufen? Oder er hofft bei jedem Gang zum Briefkasten, dass Post von mir gekommen ist?
Ich will Gottes Gebot nicht leichtfertig übersehen, nur weil meine Kindheit schwierig war. Das fällt mir nicht immer leicht. Aber am Ende möchte ich nicht sagen müssen: „Hätte ich doch.“ Und eins ist sicher: Früher oder später werde ich selbst am Fenster warten …

Dieser Artikel erschien in LYDIA 2/2016.

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Eine Antwort

  1. Ich bin auf dem Schoß meiner Oma Johanna Rosa aufgewachsen.
    Mein Elternhaus ist ein kleines, schiefes Fachwerkhaus. Wenn ich zurück denke, es ist für mich ein Wunder, wie wir alle darin Platz gefunden haben. Zu gerne hätte ich, in dem großen neuen Elternhaus meines Mannes, auch gerne bei einer Küche, mit den Schwiegereltern zusammen gelebt, doch es lief anders...
    Die Mutter meines Papas gab mir den Tipp: "Gib der Frau die Ehre, die deinen Mann erzogen hat, sonst wäre er nicht so, wie er ist. "
    Das habe ich mir zu Herzen genommen und später, als die Mutter meines Mannes im Altersheim sein musste, hatte wir eine besondere Zeit, mit Bibel lesen und beten. Der Artikel hat mich wieder daran erinnert. Ich finde es gut, wenn Fehler ehrlich beim Namen genannt werden.
    So Gott will und wir leben, werden wir als Rentner einmal in den Haushalt unserer Tochter einziehen. Bei einer Küche. Gerade wie wir es bei der alten TV Serie die Waltons sehen konnten.
    Wir haben unsere Kinder bewusst, für die Freiheit erzogen. Das Ziel zu haben, zu den Kindern zu ziehen bzw. die Eltern zu sich zu holen, hat einen Weg der Heilung in Gang gebracht.
    Jede Generation macht Fehler, da kann sie sich noch so viel Mühe geben.
    Danke nochmal, für den Artikel. Die Aufrichtigkeit war sehr heilsam.

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