Als Hiob seine Herden, sein Land und seine Kinder verloren hatte, sagte er diesen bedeutungsvollen Satz: „Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen; der Name des Herrn sei gelobt!“ (Hiob 1,21) Kann ich heute diesen Satz unterschreiben? Wie sehr vertraue ich Gott, wenn mein Leben emotionale Katastrophen bereithält?
Mir stellte sich diese Frage mit voller Wucht, als mein Sohn mit 19 Jahren mit einer Krebsdiagnose heimkam. Zuvor hatte er über Halsweh und geschwollene Lymphknoten geklagt, war irgendwann zum Arzt gegangen und von diesem zur Computertomographie geschickt worden. Als mir klar wurde, wie es um ihn stand, kamen Zweifel auf, wie sie möglicherweise auch Hiobs Frau gehabt hatte. Ich hatte Gedanken, die wohl auch in den Köpfen der Freunde von Hiob herumgeschwirrt waren. Wenn Gott gut war – und daran durfte man ja nicht zweifeln –, musste der Leidende etwas falsch gemacht haben. Ich zweifelte trotzdem an der Güte Gottes – und wurde die nächsten Jahre zwischen diesen Extremen hin und her geworfen.
anders als erhofft
Wenn Gott gut war – warum ließ er dann so etwas zu? Mein Sohn war nicht nur jung – er war auch verheiratet, lebenslustig, beliebt und ein wertvolles Mitglied seiner Gemeinde. Abgesehen davon, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass Gott es sich „leisten“ konnte, so einen besonderen Nachfolger von der Erde zu holen, war es mir unmöglich, auch nur einen Funken Sinn darin zu erkennen. Und so begann ich, mir Theorien zurechtzulegen, wie es auch Hiobs Freunde getan hatten: Mein Sohn hatte wohl doch zu „weltlich“ gelebt. Die Lösung schien simpel: Wende dich Gott wieder ganz zu – und du wirst gesund werden. Bekenne deine Sünden und kehre um – dann wird Gott dein Leben erhalten.
Doch Gott tat das nicht. Obwohl mein Sohn eine Kehrtwendung machte und zum hingegebenen Nachfolger Jesu wurde, passierte das Unfassbare: dreißig Monate nach der ersten Diagnose starb mein Sohn. Er wurde weder im letzten Moment geheilt, noch wachte er wieder auf. Ein junger, hilflos wirkender Arzt und zwei überforderte Krankenschwestern standen um ihn, seine Frau und mich herum, während sein Leben auf dieser Erde zu Ende ging.
Und doch – Gott griff ein. Nicht so, wie es hunderte Leute erbeten hatten. Nicht als Wunder-Gott, der eine spontane Heilung schenkte. Nicht so, wie wir es erhofft und uns gewünscht hatten. Sondern völlig anders. Ganz, ganz anders.
Unerwartete Antwort auf mein Gebet
Die erste Begegnung mit Gott in diesem Zusammenhang hatte ich, als ich seine Stimme in meinem Inneren hörte, die sagte: „Er wird leben!“ Diese Worte trösteten mich, sie erklärten aber nichts. Was hieß das konkret? Hier, auf dieser Erde? Hieß das, er würde geheilt werden? Oder bedeutete es, er würde in Gottes Reich leben? Ich versuchte mir selbst zu erklären, dass es „auf dieser Erde“ heißen müsse, denn dass er in Gottes Reich weiterleben würde, war ja ohnehin klar. Dass mein Sohn ewiges Leben hatte, stand schon fest – denn Gott selbst hatte zugesagt, dass jeder, der glaubt und bekennt, dass Jesus Sohn Gottes ist, das ewige Leben hat (Römer 10,10). Was ich damals noch nicht begriff war, dass das mehr war als ein billiger Hoffnungsschimmer.
Das zweite Mal redete Gott in einer Weise, die keinen Zweifel darüber entstehen ließ, dass es keine Einbildung war. Ich hatte wieder einmal flehend auf meinem Bett gesessen und versucht, meinen Sohn im Gebet aus den Klauen des Todes zu reißen – und hatte zum ungezählten Mal gefragt: „Warum, Gott?!“ Die Antwort kam in Form einer Frage: „Was, wenn diese Krankheit das Beste wäre, das Marco passieren konnte?“
Diese Antwort war nicht das, was ich erwartet, gehofft oder womit ich gerechnet hatte. Und in diesem Moment wusste ich: Sie war nicht aus meinen Gedanken gekommen. Zu meiner eigenen Verwunderung berührte und beschäftigte mich die Antwort lange und intensiv. Aber sie löste keinen Widerspruch aus. Nur ein tiefes, monatelanges Nachdenken: Was wäre, wenn? Ich spürte, dass diese Frage die Antwort schon enthielt: Es war das Beste. Nicht, dass ich den Grund in Worten hätte erklären können – aber ich wusste, dass es so war.
Die Perspektive ändern
Als Marco letztlich starb, hatte er unzählige Menschen in ihrem Inneren tief berührt. Er zog Menschen an, im Leben wie im Tod. Die letzten Tage hatte ich nur noch nachts Zeit mit ihm allein, tagsüber gaben sich die Besucher die Klinke in die Hand. Und bei seinem Begräbnis wunderten sich die Mitarbeiter der Bestattungsfirma, wer dieser Marco gewesen war, zu dessen Beerdigung fünfhundert Menschen kamen.
Die Antwort war: Er war ein ehrlicher Nachfolger Jesu geworden. Einer, der irgendwann dankbar war für den Krebs, weil Gott dadurch die Perspektiven seines Lebens zurechtgerückt hatte, wie er in seinem Tagebuch dokumentierte. Einer, der sein ganzes Vertrauen in Jesus setzte. Einer seiner Lieblingsverse aus der Bibel war: „Wer den Sohn hat, hat das Leben“ (1. Johannes 5,12). Drei Tage ehe er starb, feierten wir noch am Krankenbett das Abendmahl und sangen gemeinsam Lobpreislieder.
Aber dieser Marco, als der er heimging, war er nicht immer gewesen. Dass er zu diesem Nachfolger wurde, war ein Prozess. Vermutlich begann er eines Vormittags, als wir nach seiner ersten Entlassung aus dem Krankenhaus gemeinsam auf die Untersuchungsergebnisse warteten. Mein Sohn strahlte mich an und sprach über irgendwelche Beihilfen, die er jetzt bekommen würde – als er plötzlich stockte und sehr nachdenklich ergänzte: „Wenn ich jetzt einen Rückfall habe, nutzt mir das ganze Geld nix!“ Ich glaube, dass diese Erkenntnis der Startpunkt war für zahlreiche neue Einsichten und sich ab diesem Moment viele seiner Sichtweisen nach und nach veränderten. Wir wurden sehr nachdenklich in dieser Stunde.
Das wirkliche Wunder erkennen
Etwa zwei Jahre später erzählte mir mein Sohn von einer Vision und einer Entscheidung – und von der Gewissheit, dass Gott für seine Familie sorgen würde und er bereit war, den Kampf gegen den Krebs aufzugeben. Wenn Gott ein Wunder tun wollte, dann sollte er es tun – Marco würde nicht mehr kämpfen. Er hatte keine Kraft und keine Veranlassung mehr, gegen etwas zu kämpfen, das ohnehin stärker war als er selbst.
Ich hoffte bis zuletzt. Und ich ahnte nicht, wie schnell das Ende nun kommen würde. Nichts hätte ich mir mehr gewünscht als ein Wunder in jener Nacht, die seine letzte war. Es tat so weh, ihn zu verlieren, wie es mit Worten nicht zu beschreiben ist. Es tat so weh, dass ich das wahre Wunder gar nicht sah: Das Wunder nämlich, dass er gewusst hatte, wohin er ging. Das Wunder, dass er bis zuletzt treu geblieben war. Das Wunder, dass Freunde an meiner Seite waren, die vorher in meinem Leben gar nicht existiert hatten und die von Gott persönlich ausgesandt worden waren, um mir seine Liebe zu zeigen. Und es gab noch viele weitere.
Gott erleben in Höhen und Tiefen
Später fiel mir ein Foto in die Hand. Es zeigte meinen Sohn mit einem Krebs in der Hand. Darunter hatte er die Worte geschrieben: „You messed with the wrong one“ (Du hast gegen den Falschen gekämpft). Dieses Foto wurde für mich zum Symbol – der Krebs hatte verloren. Wo Marco jetzt ist, gibt es keinen Krebs mehr. Kein Leid, keinen Schmerz, keine Tränen, keine Chemotherapie. Marco ist für immer in der Ewigkeit, in seinem wahren Zuhause angekommen. Ist das nicht das größte Wunder?
Es hat gedauert, bis ich zur tiefen Überzeugung kam, dass der Name des Herrn, der Name Gottes, trotz aller Umstände, trotz aller Katastrophen, trotz Leid, trotz Tod, trotz Verlust gepriesen werden sollte. Ich kann nachvollziehen, was Hiob empfunden haben mag, als er die Worte aussprach: „Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen; aber nun hat mein Auge dich gesehen“ (Hiob 42,5).
Gott kennen heißt, ihn erlebt zu haben. Mit ihm Höhen und Tiefen durchlebt zu haben. Zu wissen, dass er da ist und dass er sorgt – jeden Tag aufs Neue. Vertrauen gelernt zu haben. Seine Wege bejahen zu können, weil man weiß, man kann darauf vertrauen, dass sie letztlich gut sind. Mit ihm auf dem Weg zu sein. Gott kennen heißt aber auch, den naiven Kinderglauben verloren zu haben. Erlebt zu haben, was es heißen kann, „jeden Tag sein Kreuz auf sich zu nehmen“.
Vorfreude auf das Wiedersehen
Mein Leben wird ohne Marco niemals mehr das sein, das es war. Es gibt eine Zeitrechnung, als alles gut war. Und es gibt ein Danach. Mittlerweile gibt es auch ein Danach, in dem nicht alles schlimm ist und es nur ums Überleben geht. Es gibt neue Pläne, die Gott mit mir umsetzen möchte.
Und es gibt eine unbändige Vorfreude auf ein Wiedersehen bei Gott. Es gibt das Wissen, dass Marco in Gottes Armen geborgen ist und dass der größte Schatz auf dieser Erde der ist, von dem die Bibel immer wieder spricht: das ewige Leben. Es tut immer weh, einen geliebten Menschen auf dieser Erde zu verlieren. Aber was für ein unfassbarer Trost ist es, wissen zu dürfen: es ist nicht für immer. Für immer ist nur die Herrlichkeit bei Gott – denn die wird es tatsächlich für immer und ewig geben.
Dieser Artikel erschien in LYDIA 2/2020.