Vogel im Sturm

Hardt_Vogel_im_Sturm

Mein Mann und ich planten im Februar 2015 eine Reise nach Chile und danach in die Antarktis, wo wir etwa eine Woche mit dem Schiff unterwegs sein würden. Wir freuten uns auf diese Reise – vor allem auf den zweiten Teil. Schon ein Jahr zuvor hatten wir die Möglichkeit gehabt, die Antarktis zu bereisen. Diese Landschaft mit ihren Farben, Lichtspielen und der fantastischen Tierwelt hatte uns begeistert. Es war eine Traumreise. Wir hatten immer vorgehabt, sie irgendwann zu wiederholen. Doch aus gesundheitlichen Gründen zögerten wir sie nun nicht länger hinaus. Vor vier Jahren war bei mir Morbus Parkinson diagnostiziert worden. Da niemand sagen konnte, wie schnell die Krankheit voranschreiten würde, entschlossen wir uns, die Reise nicht auf die lange Bank zu schieben.

Ausgemustert?
Doch wenige Wochen vorher erhielten wir einige Nachrichten, die unsere Stimmung drückten. Meine Arbeit als Krankenschwester in der ambulanten Pflege fiel mir immer schwerer – ich war einfach zu langsam. Dies führte dazu, dass mir nahegelegt wurde, einen Rentenantrag zu stellen. Das ist kein angenehmes Gefühl. Da bin ich gerade fünfzig geworden und soll nicht mehr vollwertig sein?! Dazu kommt, dass mein Mann seit zwölf Jahren arbeitslos ist – trotz ernsthafter Anstrengungen.
Bei der Arbeit fühlte ich mich nicht akzeptiert und verstanden. Man signalisierte mir einerseits, dass man mich wegen meiner Tätigkeiten im Büro brauche, andererseits gab man mir zu verstehen, dass ich ja nicht mehr voll leistungsfähig sei. Dann wurde eine Betriebsärztin hinzugezogen, die meine Einsatzfähigkeit einschätzen sollte.
All diese Gedanken wollten wir am Flughafen zurücklassen und den Urlaub genießen. So saßen wir also am Gate und warteten. Bevor ich mein Telefon ausschaltete, sah ich noch mal auf das Display und bemerkte einen entgangenen Anruf. Ich rief zurück und hatte die Betriebsärztin am Apparat. Sie eröffnete mir, dass sie in ihrem Gutachten Bedenken bezüglich meiner Fahrtüchtigkeit äußern werde. Sie meinte, sie würde empfehlen, dass ich vorerst betrieblich kein Auto fahren sollte. Prima!, dachte ich. Meinen Stundenumfang reduzieren müssen, zeitweise das Gefühl haben, eher eine Belastung als eine Hilfe zu sein, und nun auch das noch!

Nur schwarze Wolken
Mir war klar, dass das Konsequenzen haben musste, wenn wir wieder zu Hause waren. Mein Mann sah nur noch schwarze Wolken auf uns zukommen. Wir fragten uns beide, was werden würde. Mein Mann betet seit Jahren und versucht, eine Stelle zu bekommen, weil er für mich sorgen will – aber es tut sich nichts. Im Gegenteil: Gott lässt auch noch zu, dass ich, die ich Arbeit habe, krank werde. Wo ist Gott?
Mit diesen Gedanken stiegen wir ins Flugzeug und flogen unserem Ziel entgegen. Im Verlauf der Reise schafften wir es meistens, die Gedanken an zu Hause wegzuschieben, und genossen den Urlaub. Aber die Frage, wie es weitergehen sollte, tauchte immer wieder auf. Und da wir schon bei den negativen Gedanken waren, holten wir noch mehr davon aus unserem Innersten hervor. „Gott“, klagten wir, „es geht uns immer schlechter!“ Glücklicherweise lenkte der Heilige Geist unseren Blick aber immer wieder auf die Schönheiten der Natur.

Tief berührt
Dann kam der Tag, an dem Gott mir eine Begebenheit schenkte, die mich tief berührte und deren Bedeutung für mich ich erst später erkannte. Über dieses Erlebnis habe ich ein Gedicht verfasst. Was mir dabei ganz wichtig wurde, ist die Erkenntnis, dass Gottes Hand für mich da ist. Aber er packt mich nicht und setzt mich drauf. Nein, den Sprung oder Schritt des Vertrauens, den muss ich selbst wollen und tun.
Hat dieses Erlebnis etwas bewirkt? Ja, mein Mann und ich sind etwas ruhiger geworden und wollen lernen, mehr zu vertrauen. Gottes Hand begleitet und schützt uns immer. Er verlässt uns nicht, wie verlassen wir uns auch fühlen mögen.

Sibylle Hardt ist ausgebildete Krankenschwester und reist und fotografiert gern. Dieser Artikel erschien in LYDIA 3/2017.

Das Wagnis

Der Sonnenaufgang überm Meer,
der zog nach draußen mich auf Deck.
Dort flatterte ganz wild umher
ein Vogel und er kam nicht weg.

Er flatterte die Bordwand hoch
und stieß an seine Grenzen.
Er mühte sich und kämpfte noch.
Ich sah die Sonne glänzen.

„Komm“, sprach ich zu dem Schwarzgefieder,
das völlig orientierungslos,
„ich helf' dir in die Höhe wieder,
dann bist du frei und grenzenlos.“

Die Hilfe wollte er nicht sehen.
Die Angst in ihm war riesengroß.
So flog er, ohne umzudrehen,
in ein Versteck. Ich musste los.

Schade, dachte ich bei mir,
ich hätte gerne dich befreit.
Welch ein Tag liegt nun vor dir
voll Anstrengung und Ängstlichkeit.

Der Abend kam und ich trat wieder
am Schiffsdeck an die Reling ran.
In mir klangen Lobeslieder.
Da sah ich ihn – er sah mich an.

Er flatterte, wie morgens, wieder
verzweifelt immer an die Wand.
Ich beugte mich zu ihm hernieder
und bot ihm meine flache Hand.

Nun traut' ich meinen Augen kaum,
da hüpfte dieses kleine Tier
ganz real, es war kein Traum,
einfach auf die Hand von mir.

Langsam hob ich nun die Hand
und sah noch Sonnenstrahlen blitzen.
Der Vogel, bis zum Relingrand,
blieb still auf meiner Hand so sitzen.

Ich hielt an, er sah hinaus
und saß noch immer an dem Ort.
Doch dann breit' er die Flügel aus
und flog in seine Freiheit fort.

Mich durchströmt' ein Glücksgefühl,
der Moment gehörte mir.
In mir war es warm, nicht kühl.
Ich fühlte: Ja, Gott ist jetzt hier.

Sind wir nicht oft auch so gefangen –
sehn nur Grenzen, Angst und Not.
Wir mühen uns, doch wir gelangen
nicht weg vom Ort, der uns bedroht.

Wir hetzen, strampeln und wir jagen
und übersehen diese Hand,
die uns will gern nach oben tragen
und Freiheit schenkt Herz und Verstand.

Ich will es wagen, voll Vertrauen,
auch wenn den Ausweg ich nicht seh'.
Auf Gottes Liebe will ich bauen.
Er sorgt, dass ich nicht untergeh'.

Gott streckt mir seine Hand entgegen,
doch draufspringen, das muss ich!
Er schenkt Weite, und sein Segen
erfüllt, durchströmt, verändert mich.

Sibylle Hardt

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