„Was soll ich mit dem Rest meines Lebens anfangen?“ Manche Frauen in der zweiten Lebenshälfte ahnen gar nicht, welche Schätze an Lebenserfahrung und Fähigkeiten in ihnen stecken, die beim Thema beruflicher Wiedereinstieg sehr hilfreich sein können.
Ich habe sechs Jahre Volkswirtschaft studiert, aber viel ist nicht davon hängen geblieben. Dafür waren es Jahre, in denen ich neben dem Studium viel Zeit hatte, Projekte zu verfolgen, die mich tatsächlich interessierten.
Während des zweiten Semesters eröffnete sich mir eine neue Welt, denn ich fand zum christlichen Glauben, der meine beruflichen Interessen neu zu formen begann: Am Büchertisch meiner Kirchengemeinde entdeckte ich meine Liebe zu Büchern, beim Begrüßungsdienst wurde mir klar, dass es mir Freude macht, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, und bei der Vorstandsarbeit im CVJM fand ich die Öffentlichkeitsarbeit spannend. Endlich merkte ich, dass sich an dieser Stelle Interesse und Begabung vereinten.
Mir ist es wichtig, Menschen zu helfen, einen Beruf zu finden, der zu ihren Gaben passt und ihnen Freude macht. Und besonders auch Frauen zur Seite zu stehen, die sich – nach einer kürzeren oder längeren Pause – auf den beruflichen Wiedereinstieg vorbereiten.
Mit Erfahrung und Verantwortungsgefühl
Als umzugserprobte Pfarrfrau und Mutter von vier Kindern weiß ich, was es heißt, beruflich immer wieder neu anzufangen. Oft steht man sich selbst im Weg mit Aussagen wie: „Bin ich dafür eigentlich nicht zu alt?“, „Ich kann doch nichts!“, „Ich habe alles verlernt.“, „Ich bin nicht mehr so belastbar!“
Der Stellenmarkt hat sich in den vergangenen Jahren enorm verändert und bietet viel Potenzial für Wiedereinsteiger. In vielen Bereichen werden Arbeitskräfte gesucht. Um gute, zuverlässige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu gewinnen, sind Arbeitgeber immer kompromissbereiter. Stellen, die als Vollzeitstelle ausgeschrieben sind, könnten trotzdem infrage kommen, wenn die Bewerberinnen nur Teilzeit arbeiten wollen. Oft ist mehr möglich, als man denkt.
Wer aus einer langjährigen Familienzeit in den Beruf zurückkehrt, hat wertvolle soziale Kompetenzen erworben und unter Beweis gestellt.
Persönliche Empfehlung
Jobbörsen haben sich in den letzten Jahren von der Zeitung ins Internet verlagert. Viele Angebote finden sich beispielsweise auf den Portalen Stepstone und Indeed. Auf diesem Weg kann man sich auch online bewerben.
Die Kehrseite ist: Da viele auf diese Idee kommen, landen bei interessanten Stellen oft hundert oder mehr Bewerbungen im Postfach der Personalabteilung. Deswegen hat sich die Art, wie Unternehmen nach Mitarbeitern suchen, verändert. Niemand hat Zeit, sich durch Berge an Bewerbungsunterlagen zu arbeiten. Ist eine Stelle zu besetzen, fragt ein Unternehmer zuerst Freunde und Bekannte nach Empfehlungen. 65 Prozent der Stellen werden auf diesem Weg besetzt. Man spricht hier vom „verdeckten Stellenmarkt“.
Anschließend hört man sich im eigenen Unternehmen nach geeigneten Kandidaten um. Erst wenn all diese Schritte erfolglos waren, wird eine Stellenanzeige geschaltet. Deshalb gehört das „Netzwerken“ heute zu den Grundvoraussetzungen guter Bewerbungsarbeit. Selbst ein fehlender Abschluss kann dadurch unter Umständen wettgemacht werden. Kennt man sich bereits über eine lange Zeit und sind die Fähigkeiten bekannt, tritt der Abschluss in den Hintergrund.
Wer aus einer langjährigen Familienzeit in den Beruf zurückkehrt, hat wertvolle soziale Kompetenzen erworben und unter Beweis gestellt. Dies kann gegenüber Berufseinsteigern durchaus ein Wettbewerbsvorteil sein.
Realismus und Vertrauen
Wenn Sie sich auf den Wiedereinstieg vorbereiten, sollten Sie sich realistische Ziele setzen.
Zunächst ist es wichtig, eigene Begabungen und Fähigkeiten zu erkennen. Möglicherweise sind bestimmte Rahmenbedingungen der künftigen Arbeit entscheidend, da manche Grundlinien in diesem Lebensabschnitt stärker vorgegeben sind, beispielsweise der Alltagsrhythmus in einer Familie mit Kindern. So kann es sein, dass ein langer Anfahrtsweg ausgeschlossen ist und ein flexibles Modell mit Homeoffice gewünscht wird.
Zum Schluss, um Sie zu motivieren, den ersten Schritt zu wagen, plaudere ich aus dem Nähkästchen. Es kann nämlich so leicht sein: Wissen Sie, wie ich zu meinem gegenwärtigen Job gekommen bin? Ich habe vor ein paar Jahren einen Online-Test gemacht und bin auf das Berufsfeld „Berufsberatung/Arbeitsmarktdienstleistung“ gestoßen. Bei einem Schulfest kam ich zufällig mit einer Mutter ins Gespräch, die ein kleines Unternehmen für Bewerbungstraining hat. Ich erwähnte nur kurz, dass ich gerade dabei bin, mich beruflich neu zu orientieren und sehr gern fünf Stunden pro Woche arbeiten würde. Sie lachte mich an und sagte: „Dich schickt der Himmel.“
Das, was ich bin, kann und habe, verdanke ich Gott. Darum kann ich Gott bitten, dass er mir Bereiche zeigt, in denen ich mit meinen Gaben für andere nützlich sein kann. Wenn ich mich von ihm leiten lasse, schickt mich der Himmel – auch wenn ich mich nicht immer himmlisch fühle.
Dieser Artikel erschien in Lydia 1/2023.