Vor neun Jahren hat Sibylle Wagner sich entschieden, SOS-Kinderdorfmutter zu werden. Seitdem versorgt sie jeden Tag sechs Kinder, organisiert den Alltag der Familie und die Zusammenarbeit im Team. „Der Tag läuft nie so, wie ich ihn geplant habe“, verrät sie. „Ich kann gar nicht gut organisieren, aber ich weiß, dass Jesus mich hier hingestellt hat. Und er gibt mir die Mitarbeiter, die mich ergänzen.“
Frau Wagner, wie viele Kinder leben bei Ihnen im Kinderdorf-Haus?
Im Moment betreue ich sechs Kinder. Hinzu kommen unsere eigene drei Kinder und ein Erziehungsstellenkind, das an meine Familie angebunden ist. Vier Kinder sind bereits ausgezogen.
Die jüngsten, ein Zwillingspaar, sind acht Jahre alt. Die Älteste ist 18 und zur gleichen Zeit hier eingezogen wie ich; das ist jetzt neun Jahre her. Sie hätte durchaus wieder nach Hause ziehen können, aber im Gegensatz zu zweien ihrer Geschwister wollte sie nicht. Sie hat hier Wurzeln geschlagen. Ich habe eine gute Beziehung zu ihrer Mutter. Ich versuche, zu allen Eltern im Kontakt zu bleiben, weil das für die Kinder viel ausmacht. Deshalb sage ich jeder Mutter: „Sie bleiben die Mama. Ich heiße vielleicht Kinderdorfmutter, aber ich bin Sibylle, auch für die Kinder.“ Ich unterstütze es daher, dass die Kinder Kontakt zu ihren Eltern haben.
Mit welchen Erfahrungen kommen die Kinder zu Ihnen?
Ein hohes Risiko in unserer Gesellschaft bringen Stiefelternkonstellationen bzw. Patchworkfamilien mit sich: Hier ist eins von 12 Kindern auf stationäre Jugendhilfe angewiesen. Viele Kinder kommen auch schlicht deshalb zu uns, weil ihre Eltern es nicht schaffen, sie ausreichend zu versorgen. Viele leiden unter psychischen Erkrankungen, Abhängigkeiten oder es gibt Gewalt in der Familie.
Oft haben die Kinder zu Hause nur unzureichend zu essen bekommen. Wenn ein Nachbar oder ein Lehrer so etwas mitbekommt, wird das Jugendamt informiert und schaut nach – und dann kommen oft noch andere Dinge zum Vorschein. Die Eltern kümmern sich unzureichend um die Kinder, teils sind diese sich selbst überlassen und gehen zeitweise nicht in die Schule. Viele waren nie in einem Kindergarten. Und es leben auch nicht wenige Kinder in unserem Kinderdorf, die schon in ihrem jungen Alter sexuelle Gewalt erleiden mussten.
Wie werden die Kinder mit diesen schlimmen Erfahrungen fertig?
Die Kinder besitzen eine besondere Resilienz. Gegenüber von uns wurde ein ION-Haus eröffnet [ION: in Obhutnahme]. Dorthin kommen Kinder von 0–11 Jahren, die von jetzt auf gleich aus ihrer Familie herausgenommen werden, oft durch die Polizei. Hier gibt es keine Vorbereitungszeit.
Und dann sehe ich, wie das Kind am nächsten Tag vor dem Haus auf dem Dreirad oder Fahrrad herumfährt und Kontakte zu anderen Kindern bekommt.
Natürlich kommen später die schlimmen Erfahrungen ans Licht, und sie brauchen Unterstützung und Therapie. Dennoch bedeutet das nicht, dass sie keine Chance mehr im Leben haben.
Wenn ich in der Arbeit hier eins gelernt habe, dann,
dass Jesus sich um jedes Kind kümmert.
Wie gelingt Ihnen dieser Spagat – den Hintergrund der Kinder zu kennen und trotzdem den Kontakt zu den Eltern zu halten?
Aus der Forschung wissen wir, dass sich Kinder in Fremderziehung am besten entwickeln, wenn es gelingt, dass die verantwortlichen Erwachsenen im Blick auf das Kind gut zusammenarbeiten und damit den Loyalitätskonflikt, in dem sich das Kind befindet, abschwächt. Wir pflegen zu vielen Eltern der Kinder eine wertschätzende Beziehung. Für die Identitätsentwicklung der Kinder ist enorm wichtig, dass wir ihre Wurzeln akzeptieren und ihnen helfen, sich mit ihrer Vergangenheit zu versöhnen.
Zugleich haben wir hier einen Schutzauftrag. Kein Familienangehöriger, der ein Kind missbraucht hat, darf mein Haus betreten. Und auch nicht dieses Kinderdorf. Die Kinder werden sehr stark geschützt.
Elternarbeit kann daher auch sehr schwierig sein. Viele Eltern-Kind-Kontakte sind zeitweise auch sehr belastend fürs Kind. Dann brauchen diese sehr viel Unterstützung sowohl im Alltag als auch durch eine Therapie. Hinzu kommt, dass ich mich um manche Themen, die die Eltern betreffen, nicht kümmern kann, weil dadurch die Beziehung zu den Kindern oder zu den Eltern zu stark belastet würde. Ich bin dankbar, dass ich einen Bereichsleiter habe, an den ich solche Probleme abgeben kann. Das ist entlastend.
Welche Rolle spielt Ihr Glaube im Alltag?
Mein Mann und ich beten jeden Abend für die Kinder. Ich habe zum Beispiel erlebt, dass Kinder sich von uns entfernt haben oder dass wir ihnen nicht genügen konnten. Wenn wir dann für diese Kinder gebetet haben, haben wir so manches Mal erlebt, dass sich etwas verändert.
In anderen Fällen haben wir gebetet und ein Kind hat ein Ausbildungsplatz gefunden. Oft erlebe ich, dass dann Menschen von außen kommen und eine Lösung haben. Dass jemand sagt: „Ich würde in meiner Firma ein Praktikum anbieten.“ Oder: „Ich nehme ein Kind zur Ausbildung auf.“ Es gibt Lehrer, die viel mehr tun, als sie eigentlich müssten. Auf so etwas sind wir angewiesen. Ich erlebe ganz oft, dass Jesus wirklich auf Gebete antwortet oder auch uns wieder neue Kraft gibt.
Fotos: sina.fotografie
Das komplette Interview lesen Sie in Lydia 4/24