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Montag, 20.04.2020

Schmetterlingsleichtigkeit

Die kleine Raupe Nimmersatt im gleichnamigen Kinderbuch von Eric Carle findet ihr Glück im Fressen von Leckerbissen. Irgendwann ist sie dick und plump gefuttert und spinnt sich ein. Ihr Raupenleben endet in einer undurchsichtigen Hülle, dem Kokon. Dann geschieht das, was wir als Wunder bestaunen: die Metamorphose. Und schließlich bricht sich ein Schmetterling aus dieser dunklen Hülle Bahn und flattert mit atemberaubend schöner Farbzeichnung federleicht-gaukelnd durch die Lüfte. Ein Naturschauspiel, das wir in unserer Biologiewissen-Schublade abgespeichert haben, das uns aber nicht mehr so entzückt wie in unserer Kindheit, als wir den ersten Schmetterling des Jahres fröhlich begrüßten.
Es ist über fünfzig Jahre her, dass meine Mutter, mit mir als Kind an der Hand, Schmetterlinge bestaunt hat. Und wenn meine Mutter eins konnte, dann voller Freude staunen! „Schau, Christine! Ist der nicht wunderschön?“ Während meine Kinderaugen den kleinen Flatterer oft gar nicht so schnell orten konnten, hatte Mama ihn längst erblickt und hielt inne, um diesen besonderen Anblick von Herzen zu genießen. Die Leichtigkeit, das scheinbar lautlose Schweben! Wie uns diese filigrane Beschwingtheit erfreute!
Raupen waren da doch eher schmucklos-kriechend auf der Erde oder an Pflanzen unterwegs. Heute gleicht meine einst begeisterungsfähige, hell und fröhlich jubelnde „Staune-Mama“, die sich auch durch Schmetterlinge von Gott beschenkt wusste, immer mehr so einer Raupe. Sie spinnt sich weiter und weiter in ihrem Alzheimer-Kokon ein. Ihr Wesen ist kaum noch sichtbar. Sie geht gebeugt und abwesend an mir vorbei, bemerkt mich nicht. Wir sitzen im selben Zimmer, sie nimmt mich nicht wahr. Es tut mir weh, sie so zu sehen. Trauer beginnt. Erkennt sie meine Stimme noch? Entdecke ich vielleicht doch noch irgendwo eine lieb-vertraute Eigenschaft an ihr? Mehr und mehr ist sie umfangen von einem undurchdringbaren „Fadengespinst“.
In nicht allzu ferner Zeit wird sie in Gänze eingehüllt sein, um dann für immer aus ihrem Erden-Raupen-Leben zu verschwinden. Auch für meine Mutter wird sich eine andere Daseinsform auftun, die sie dann mit Schmetterlingsleichtigkeit erleben darf: ein neues, farbenfrohes, unbeschwertes Sein mit Freiheit, Weite und Schönheit. Die Bibel nennt diese Metamorphose Auferstehung und ewiges Leben.
In Wahrheit ist unser menschliches „Raupen-Welt-Ende“ eine endgültige Erlösung von unserem erdverbundenen Körper, in dem wir mitunter eine Vielzahl von Leiden erleben. Ich wünsche meiner Mama, dass sie bald aus ihrem Raupendasein hinaus in die Weite kann. Wenn sie in Gottes Wirklichkeit ankommt, wird sie meine hell und fröhlich jubelnde „Staune-Mama“ sein (noch viel, viel mehr als in meiner Kindheit), die sich von Gott überreich beschenkt weiß: „Schau! Ist es nicht wunderschön!?“
„Einmal aber werden wir Gott von Angesicht zu Angesicht sehen. Jetzt erkenne ich nur Bruchstücke, doch einmal werde ich alles klar erkennen, so deutlich, wie Gott mich jetzt schon kennt“ (1. Korinther 13,12).

Christine Schlagner

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11 Antworten

  1. Wow! Dieser Text ist so großartig und wunderschön umschrieben, und so berührend, dass ich zum ersten Mal einen Kommentar hier da lassen muss. Vielen lieben Dank!

  2. Danke. Mir erging es mit meiner Mutter genauso. Konnte es nur nicht in Worte fassen. Wir waren immer sehr verbunden und durch ihre Krankheit noch viel mehr. Unser aller Vater hat sie vor zwei Jahren zu sich gerufen und erlöst. Ich fühle mich unbeschreiblich getröstet und bin dankbar, dass ich alles auch so erlebt habe. Feli

  3. Hui! Das nenne ich "Mit Worten malen"! Eine tolle Beschreibung und Vorstellung: Wie die einstige "Staune-Mama" wieder zur "Staune-Mama" wird! Ja, wie gut, dass wir diese Zusicherung im christlichen Glauben haben! Das macht es uns auch leichter, das "Raupendasein" von Menschen hier auf der Erde - besonders wenn es sich um unsere Allernächsten handelt - nicht ganz so sehr schwer zu nehmen, sondern ganz bewusst das "neue Stadium" zu akzeptieren und uns eher darauf zu konzentrieren, es ihnen mit viel Liebe "in ihrem Kokon so bequem wie möglich zu machen"! Ich habe auch schon einen lieben Mann, einen lieben Papa und eine liebe Mama abgeben müssen... "In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden!"-Joh.16,33

  4. Meine Enkelin und ich lieben Schmetterlinge, vielen Dank für die wunderschönen gemalten Worte. Trotz einer gewissen Traurigkeit empfindet man beim Lesen den fast nicht spürbaren Flügelschlag des Schmetterlings in einer Leichtigkeit und mit Freude auf unsere zukünftige Heimat !

  5. Das ist eine wunderschöne Geschichte und eine sehr tröstliche Alles ist wandelbar Welch schöne Gewissheit dass wir heimkehren zu unserem himmlischen Vater der immer für uns da ist

  6. Wow, wie wunderschön! Der Vergleich mit der Raupe, dem Einspinnen in den Kokon und der Verwandlung in den Schmetterling in Verbindung zum Leben mit einem alternden, in das Vergessen fallenden, geliebten Person zu malen ist so anschaulich, tröstlich, den Blick auf ewige Hoffnung erhebend.... Vielen Dank!

  7. Liebe Christine, ich kann nur sagen: ich hatte beim Lesen Tränen in den Augen....., was für eine tröstliche Metapher in einer so mit Worten bildlich beschriebenen Situation als ob man die Schmetterlinge mit entdeckt,immer mit dem Trost das an allen schwierigen und traurigen Wegen am Ende die Erlösung steht...Viel Kraft bei der Begleitung deiner Mutter auf dem letzten Stück des irdischen Weges

  8. Was für eine wunderschöne Metapher. Jeder Betroffene wird sich wohl wiederfinden können. Ich hoffe, sie gibt noch vielen Menschen Trost!

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