Mein Alltag mit

ADHS

SinaWagner_privat

Sina Wagner bekam erst als Erwachsene die Diagnose ADHS. Da hatte sie schon zwei Kinder und merkte, dass sie den Alltag immer schlechter bewältigen konnte.
Nach dem ersten Schock begann für sie ein langer Weg, diese Diagnose und sich selbst anzunehmen. Inzwischen sagt sie: Ich habe ein großes Herz für Menschen mit psychischen Erkrankungen.

SINA, BEI DIR WURDE RELATIV SPÄT ADHS FESTGESTELLT. WIE KAM ES DAZU?

Ich hatte gerade das zweite Kind bekommen und mir wurde schnell klar: Irgendwas stimmt nicht. Ich hatte Schwierigkeiten, mein Sein plus das Sein eines Neugeborenen und eines Kleinkindes unter einen Hut zu bekommen. Andere bekommen das besser hin. Ich habe viel geweint und hatte das Gefühl zu versagen. Darüber hinaus kämpfe ich schon mein Leben lang mit verschiedenen psychischen Erkrankungen und diese wurden in dieser Phase schlimmer. Um die in den Griff zu bekommen, bin ich dann in Therapie gegangen. Die Therapeutin hat mich in der ersten Sitzung dann angeschaut und gefragt: „Frau Wagner, wie kann es sein, dass bei Ihnen noch nie jemand ADHS diagnostiziert hat? Ist Ihnen das nie in den Sinn gekommen?“

WIE LANGE KÄMPFST DU SCHON MIT PSYCHISCHEN KRANKHEITEN?

Es hat mit einer Essstörung begonnen, die ich mit 18 entwickelt habe: Bulimie. Sie wurde so akut, dass ich zwei Monate in einer Klinik behandelt wurde. Dort wurden aus der Essstörung, die ich einigermaßen im Griff hatte, Zwangsgedanken und schließlich Zwangshandlungen. Diese haben sich im Laufe der Jahre so verschlimmert, dass ich noch mal für zwei Monate in die Klinik musste. Aber niemand kam auf die Idee, dass ADHS etwas damit zu tun haben könnte, die ja Persönlichkeit und Identitätsfragen stark betrifft. Frauen werden häufig erst diagnostiziert, wenn sie Kinder bekommen. Bis dahin schlagen sie sich irgendwie durch und schaffen es halbwegs, pünktlich zu sein oder an die wichtigen Dinge zu denken. Doch dann müssen sie auf einmal für zwei oder drei Leute mitdenken. Das ist für jemanden mit ADHS, der sich schon mit seinem eigenen Wesen schwertut, eine riesige Herausforderung. Die Umstellung auf zwei Kinder war für mich als Mama mit ADHS die anstrengendste und herausforderndste Phase meines Lebens.

Foto Sina Wagner

WIE HAT SICH ADHS IM ALLTAG GEÄUSSERT?

Ich war so mit dem Alltag überfordert, dass ich oft gar nichts oder nur einen Teil gemacht habe. Ich konnte einfach nicht. Ich habe zwar gesehen, dass ich mein Kind wickeln oder den vollen Windeleimer rausbringen müsste und habe auch Dinge erledigt oder von hier nach dort geräumt. Ich habe viel angefangen, aber nichts fertig gemacht. Ich war einfach nicht in der Lage, Prioritäten zu setzen oder klar zu denken.

WELCHE STRATEGIEN HELFEN DIR, DEINEN ALLTAG ZU BEWÄLTIGEN?

Meine allerbeste Strategie lautet Selbstannahme. Das ist tatsächlich das, was mir am allermeisten geholfen hat. Dann hilft mir auch mein Glaube. Manchmal stelle ich mir vor, dass Jesus schmunzelnd dasitzt und sich denkt: Ich weiß, wo dein Handy ist. Du wirst es auch gleich finden. Es klingt verrückt, aber ich erlebe Jesus ganz oft in alltäglichen Dingen. Als ich verstanden habe: Wenn er liebevoll über mich lächeln und liebevoll auf mich schauen kann, kann ich das auch. Dann darf ich das auch. Das hat lange gedauert, und dieser Prozess ist auch noch nicht abgeschlossen, aber ich habe rückblickend Frieden mit mir geschlossen. Vorher habe ich mich ständig gefragt: Warum gelingt es mir nicht, Freundschaften langfristig aufrechtzuerhalten? Warum kaufe ich mir heute eine Nähmaschine und nähe eine Woche lang wie verrückt – aber schon in der nächsten Woche interessiere ich mich nicht mehr dafür? Warum bin ich so? Ich habe erkannt, dass es hier um mehr geht als nur darum, sich zu beherrschen. Die Erkenntnis, dass dieses Verhalten einen Namen hat und dass es Menschen gibt, die das Gleiche durchleben, war befreiend. Ich bin in dieser Hinsicht komplett normal. Vor Kurzem habe ich den tollsten Spruch aller Zeiten gelesen: „Die Diagnose hat mir geholfen zu verstehen, dass ich kein seltsames Pferd, sondern ein normales Zebra bin.“ Genau das hat die Diagnose auch bei mir bewirkt.

WIE SIEHT FÜR DICH EIN HILFREICHER UMGANG MIT MENSCHEN AUS, DIE ADHS HABEN?

Es gilt, die Betreffenden anzunehmen und sich auf ihre Persönlichkeit einzulassen. Druck oder Vorwürfe sind wenig hilfreich. Wenn ich mich lange nicht bei jemandem melde oder ein Geschenk nicht öffne, dann ist das nicht persönlich gemeint. Hier setze ich auf das Verständnis meiner Freunde. Ein paar vertraute Personen dürfen mir aber auch manchmal in den Hintern treten: „Sina, heute nimmst du das in Angriff!“

Interview: Ellen Nieswiodek-Martin

Fotos: Lana Körner und privat

Das komplette Interview findet sich in Lydia 02/25. Die Lydia kann als Abo oder als Einzelheft erworben werden.

"Danke" an die Autorin

Der Beitrag hat Ihnen gefallen? Sagen Sie der Autorin „Danke!“ mit einem Kommentar.

Artikel teilen?

Was denken Sie?

Teilen Sie Ihre Gedanke mit uns und anderen Lesern! Wir freuen uns über Ihren Beitrag.

> Kommentieren

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Ähnliche Artikel

Nie mehr allein
An Pfingsten feiern Christen, dass der Heilige Geist auf die Erde kam. Doch welche Bedeutung hat der Heilige Geist heute noch?
> weiterlesen
Auszeit für Menschen in Krisen
Viviana und Chris Boy bieten eine Auszeit für Menschen in Krisen an.
> weiterlesen