Nichts war wie immer. Aber wie könnte es auch? Mein Mann war vor einigen Monaten plötzlich verstorben und meine Welt war in den Grundfesten erschüttert. Und jetzt stand die Advents- und Weihnachtszeit vor der Tür. Vor dieser Zeit hatte ich Angst. Angst deshalb, weil mein Mann und ich mehr als 49 Jahre lang wie zwei Kinder die Wohnung adventlich geschmückt und diese Zeit sehr genossen hatten. Nach getaner Arbeit hatte es dann ein Käsefondue gegeben und wir waren zu zweit glücklich miteinander gewesen.
Und dieses Jahr? Da mein Sohn und die Schwiegertochter etwas weit weg wohnen, musste ich vieles allein erledigen. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, meine Wohnung nur ganz wenig zu schmücken oder gar nicht, weil mir einige Frauen in meiner Situation berichtet hatten, sie hätten im ersten Jahr nach dem Tod ihres Mannes überhaupt nichts in dieser Richtung unternommen. Und die Bücher, die ich stapelweise über Trauerbewältigung las, hatten auch keine Lösung für mich. Sie gaben mir gute Ratschläge, mit denen ich allerdings in meiner Situation nicht viel anfangen konnte. Ich blieb traurig zurück und hatte das Gefühl, dass die Tipps nicht zu mir passten. Irgendwann legte ich die Bücher beiseite und versuchte zu fühlen, was ich brauchte.
Der Platz in der Ecke
So entschloss ich mich an diesem Nachmittag zum Dekorieren. Ob es falsch ist, wird sich zeigen, dachte ich. Ich wählte einige Stücke der Weihnachtsdekoration aus den vielen Kisten auf dem Dachboden aus, um die Wohnung in ein halbwegs adventliches Kleid zu hüllen. In all den Jahren hatte ich das im Griff gehabt und gewusst, wo was hinkam. Heute stand ich buchstäblich wie der Ochs vorm Berg und war wie gelähmt und unfähig, etwas zuzuordnen. Alles, was ich in die Hand nahm, rief Erinnerungen in mir wach und diese taten weh, machten mich aber auch sehr dankbar, sie erlebt zu haben. Immer noch war ich überzeugt, unsere Weihnachtskrippe dieses Jahr nicht aufzustellen. Sie war recht groß und schwer und stand auf dem Dachboden. Mein Mann und unser Sohn hatten sie selbst gebaut. Der Boden der Krippe war der Ecke hinter der Couch angepasst und zugesägt worden. Doch was sollte ich mit dem Platz hinter der Couch machen? Was sollte ich statt der Krippenlandschaft mit den vielen Figuren hinstellen? Meistens bin ich ideenreich, doch ein Ersatz für unsere Krippe fiel mir nicht ein. Ich setzte mich an den Tisch und starrte in die Ecke.
Mein Sohn fragte mich am Telefon, was ich denn am liebsten hätte. „Dass die Krippe da steht“, sagte ich spontan und fast trotzig. „Dann mach es doch“, war die Antwort. „Aber hole den Nachbarn zum Tragen“, sagte er noch, denn als Rollstuhlfahrer war ihm das nicht möglich. Doch auf den Nachbarn konnte ich heute nicht warten! Beflügelt von der Klarheit in mir, holte ich die Weihnachtskrippe vom Dachboden und trotz der Größe schaffte ich das sehr gut. Auch das Anschließen der kleinen elektrischen Lichter für das Lagerfeuer der Hirten und die Innenbeleuchtung der Krippe erschien mir logisch, obwohl ich das noch nie gemacht hatte. Dafür war immer mein Mann zuständig gewesen, denn in Sachen Technik bin ich nicht sehr talentiert. Mit einer Steckerleiste konnte ich alle Teile zugleich anschalten.
Gänsehautmoment
Dann setzte ich mich staunend hin. Was war denn das gerade gewesen? Ein „Gänsehautmoment“! Hatte ich etwa Gottes Hilfe ganz praktisch erfahren? Gott, mit dem ich kämpfte und seine Allmacht nach jahrzehntelanger Glaubenserfahrung anzweifelte? Gott, der es zugelassen hatte, dass mein Ehemann vier Wochen vor unserer goldenen Hochzeit plötzlich verstarb? Ich fühlte mich von ihm ungerecht behandelt und ertrug das Alleinsein sehr schlecht.
Für mich wurde jedoch gerade dieses Adventserlebnis eine tiefe, wunderbare Erfahrung. Natürlich konnte ich für die Weihnachtskrippe keinen ebenbürtigen Ersatz finden. Weil es keinen Ersatz gab! Für mich rückte das Geschehen in dem kleinen Stall in Bethlehem in die Mitte meines Herzens. Ich begriff es neu und spürte es trotz meiner aufgewühlten Seele: Allein auf das Kind in der Krippe kam es an! Ihm wollte ich Herberge bieten. Ich empfand das gerade an diesem Tag als ein kostbares Geschenk Gottes an mich.
Trotz großer Trauer um meinen Mann, war ich dankbar und genoss die dekorierte Wohnung, aber vor allem die erleuchtete Krippe in der Ecke hinter der Couch. Das Licht, das von dem Stern ausging, tröstete mich und vertrieb die Dunkelheit.
Dieser Artikel erschien in LYDIA 4/21.