Niemals

die Hoffnung verlieren

Nadiyka Gerbish


Wie kann man mit Raketenbeschuss und ständiger Bedrohung in der Ukraine leben?

Nadiyka Gerbish hat mit ihrer Familie während des Kriegs in der Ukraine ein Haus auf dem Land gebaut. Inmitten des Leids und der Zerstörung möchten sie ihre Türen für andere Menschen öffnen. "Bei allem was wir tun, bemühen wir uns, Gott zu ehren und mit Wärme und Anteilnahme für andere da zu sein", sagt sie.

Man sagt, Menschen, die in der Nähe der Front leben, können den Krieg emotional leichter verkraften. Ihre Ängste sind in der Unmittelbarkeit der täglichen Realität begründet. Je weiter man von der unmittelbaren Gefahr entfernt ist, desto wilder ist die Fantasie und desto größer die Angst. Ich stelle oft fest, dass meine Freunde, die wohlbehütet in einem anderen Land leben, viel mehr leiden als ich, die ich zu Hause geblieben bin.

Natürlich ist das Leben in der Ukraine immer noch in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung. Manchmal fliegen russische Raketen über unser Haus und unseren Garten und zielen auf die großen Städte, wo sie am meisten Zerstörung anrichten können. Helikopter transportieren die Schwerverletzten in überfüllte Krankenhäuser. Und selbst wenn wir hier auf dem Land fast nie Luftalarm haben und somit die Glücklichen sind, die nachts schlafen können, werden wir doch an jedem Tag, den wir in der Stadt verbringen, daran erinnert, dass unsere Städte immer noch ohne Unterlass beschossen werden.

Zwischen Schmerz und Hoffnung

Immer mehr Freunde und Nachbarn werden an die Front geschickt. Einige kehren in Särgen mit einer blaugelben Fahne zurück. Andere werden als „missing in action“ (vermisst) geführt, und die Ungewissheit über ihr Schicksal macht die Hoffnung der Daheimgebliebenen nur umso quälender. Die überwältigende Rate an täglichen Todesfällen verringert den Schmerz jedes Verlustes nicht. Der Schmerz von gestern wird kein Heilmittel für den Schmerz von heute.

Katastrophale Tragödien mildern nicht den „gewöhnlichen“, alltäglichen Kummer. Jede Träne, jeder Herzschlag zählt noch, egal, wie klein er in Anbetracht der zitternden und zuckenden Welt erscheint. Es tut immer noch so weh und die Dunkelheit erscheint manchmal unerträglich. Nicht jede Familie, die auf ein Wunder hoffte und dafür betete, erhielt eines. Nicht jeder hat Gerechtigkeit erfahren und nicht jeder wird sie erfahren.

Unser gegenwärtiger Schmerz ist nicht die endgültige Auflösung unserer Geschichte. Und doch: Wir sind in der Zeit gefangen. Auch wenn wir an den endgültigen Sieg des Lichts und die unveränderliche Freude der Ewigkeit glauben, sind wir noch hier, im Moment von Golgatha, dem Punkt der größten Intensität. Manche von uns werden zusammen mit Jesus gekreuzigt. Andere stehen an der Seite von Maria und Johannes.

Und vielleicht ist der einzige Weg, wie wir das Bild des gekreuzigten Christus nicht verraten, indem wir uns um jemanden kümmern, der uns nahe ist und unter unerträglichem, hoffnunglosem Schmerz leidet

Für andere da sein

Bei allem, was wir tun – Arbeit, Spenden, Freiwilligenarbeit, Unterstützung von Soldatenfamilien und ukrainischen Binnenvertriebenen, Kulturdiplomatie und Gastfreundschaft –, bemühen wir uns, Gott zu ehren und mit Wärme und Anteilnahme für andere da zu sein.

Zu Hause tun wir unser Bestes, um nicht nur weiterzuleben, sondern unser Leben bis zum Rand mit Dankbarkeit und mit Gottes Schönheit zu füllen. Wir füttern die Vögel und streunende Hunde und betrachten den Himmel – die Sonnenauf- und -untergänge und die Sterne, manchmal durch ein Fernglas oder ein Teleskop. Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben einen kleinen Garten angelegt und mich in ihn verliebt.

Die alltägliche Schönheit, die durch die alltägliche Gefahr noch verstärkt wird, lässt mich innehalten und aufmerksam werden. Wenn ich mir die Geschichten der Besucher anhöre, die sich hier in unserem winzigen Haus wohlzufühlen scheinen, verdoppelt sich der Wert dieses riskanten Abenteuers, das wir erleben. Und manchmal denke ich, dass wir die Gemeinschaft der Menschen hier fördern und nähren - einfach dadurch, dass wir unsere Türen öffnen und das Haus wohnlich und einladend gestalten.

Die Schönheit zu genießen und jeden Tag in dem Bewusstsein zu leben, wie kostbar er ist, ist keine Flucht vor der Realität, sondern ein beharrliches Weitermachen. Wie Viktoria Borodina, die 2014 ihre Heimat Donezk verlassen musste und zur Binnenvertriebenen wurde, mir einmal sagte, brauchen wir unsere Traurigkeit, um die Dinge tiefer zu verstehen.

Aber wir brauchen auch Freude, um die Kraft zu haben weiterzumachen und damit wir niemals die Hoffnung verlieren. 

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